„Eurythmie wirkt – und zwar voraussetzungsfrei!“

Vera Koppehel auf der Eurythmiebühne
Foto: C. Fischer

Mehr als 100 Jahre nach ihrer Gründung steht die Bewegungskunst Eurythmie heute durchaus vor Herausforderungen. Während Waldorfschulen weltweit händeringend pädagogisch geschulte Fachkräfte für den Eurythmieunterricht suchen, sind die beruflichen Perspektiven im Bereich der Bühneneurythmie prekär sowie innerhalb der Eurythmietherapie angespannt. Trotz aller Ausbildungsoffensiven und Bemühungen, den spezifischen Beitrag der Eurythmie in Gesellschaft und Medizin herauszuarbeiten, ist das Studium nach wie vor ein Orchideenfach und die Eurythmie kaum aus ihrer Nische herausgetreten.

Doch an verschiedenen Stellen setzen sich Menschen mit Initiativen für eine zeitgemäße Erneuerung der Eurythmie ein – so auch die Eurythmistin und Kulturmanagerin Vera Koppehel. Sie arbeitet als Performerin, Therapeutin sowie Eurythmie-Dozentin in Basel und Kopenhagen. Seit einigen Monaten entwickelt sie gemeinsam mit der SAGST außerdem ein Konzept für Businesseurythmie. Im Interview berichtet sie, welche Fragen sie bei ihrer Arbeit leiten.

Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit der SAGST?
Vera Koppehel: Zunächst durch die Gestaltung der Jahresklausur der Stiftung im Januar 2020. Zusammen mit dem Musiker und Dirigenten Robin Engelen war ich eingeladen, zwei Tage lang mit den Mitarbeitenden künstlerisch zu arbeiten. Die Feedback-Runde war überwältigend positiv. Die Teilnehmenden haben erlebt, welches große Potenzial in der Eurythmie steckt, und wollten gerne weitermachen.

Für mich steht fest: Eurythmie wirkt – und zwar voraussetzungsfrei! Jeder kann einsteigen, weil sie allgemein-menschliche Themen berührt. Ich entwickle spezielle Übungen, die diesen direkten, unmittelbaren Zugang vom Universellen zum Individuellen nutzen. Während der Jahresklausur konnten wir solche Übungen gemeinsam ausprobieren – eine wunderbare Gelegenheit auch für mich, ihre Wirkung genauer zu erproben.

Wie ging es weiter?
Vera Koppehel: Ich wurde gebeten, für die Stiftung ein Konzept für Business- bzw. Betriebseurythmie zu erarbeiten. Dabei sollten zwei Aspekte eine Rolle spielen. Zum einen ist da die Ebene der Gesundheitsvorsorge: Eurythmietherapie als Gesundheitsprophylaxe, sowohl in Kursen als auch in Einzelstunden. Auf der zweiten Ebene geht es um meine Art, Eurythmie als meditativen prozessorientierten Zugang zu Welt und Selbsterkenntnis zu begreifen – auch im Unternehmenskontext. Meiner Erfahrung nach hat jeder Mensch die tiefe Sehnsucht in sich, in seinem Leben eine gewisse innere Ruhe zu finden. Wir wollen in uns verankert, authentisch und damit souverän sein. Dies impliziert insbesondere die Suche nach der eigenen Aufgabe. Auch für Unternehmen stellt sich die Frage: Was ist unser Auftrag in der Welt? Wozu sind wir angetreten? Und welche Fähigkeiten brauchen unsere Mitarbeitenden, um in ihrem anspruchsvollen Alltagsleben ebenso kreativ wie konstruktiv denken, fühlen und handeln zu können?

Wie kann Eurythmie bei diesen Fragen helfen?
Vera Koppehel: Eurythmie ermöglicht Erkenntnis durch Bewegung und geht deshalb weit über das vordergründige Kursgeschehen oder nur gesprächsbasiertes Coaching hinaus. Man könnte sagen: Das Ganze entwickelt eine innere, bewegte Seite. Es entsteht eine Art Ausbildungsszenario, in dem jede und jeder selbst an ihrer oder seiner Entwicklung arbeiten kann. Die Aufmerksamkeit richtet sich hierbei auf das Freilegen des schöpferischen Potenzials. Mit dieser Haltung lehren wir auch am Institute for Inspired Movement in Kopenhagen und gehen dort mit der Ausbildung „FLOW&U“ neue Wege.

Für wen ist diese Ausbildung gedacht?
Vera Koppehel: Wir richten uns vor allem an Menschen, die schon mitten im Leben stehen und den Wunsch haben, mit der Eurythmie beruflich etwas Neues zu beginnen. Das sind z. B. motivierte Pädagogen, die mit inspirierter Bewegung ihr Fach bereichern möchten, aber auch Heilpraktiker oder Krankenschwestern, die sich für Heileurythmie interessieren, sowie Landwirte, die neugierig sind, wie sich Eurythmie in Agrarbetrieben einsetzen lässt. Für diese Menschen ist ein klassisches, ebenso langwieriges wie kostenintensives Vollzeit-Eurythmie-Studium kaum machbar – es passt einfach nicht in ihr Leben. Jedes Jahr machen nicht mehr als rund hundert Menschen weltweit ihren Abschluss. Ein hoher Prozentsatz der Absolventinnen und Absolventen ergreift den Beruf gar nicht, hinzukommen noch etliche, die zwar in den Beruf einsteigen, ihn aber nicht langfristig ausüben. Das ist nicht nur betriebswirtschaftlich ein Fiasko.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Vera Koppehel: Wir verstehen die Eurythmie nicht als Selbstzweck, sondern als ein Werkzeug für die Welt bzw. das Feld, auf dem man tätig ist. Wir setzen daher auf eine konsequent praxisorientierte Ausbildung und motivieren die Studierenden dazu, die Eurythmie von Anfang an in ihr berufliches und privates Umfeld zu integrieren. Und das Schöne dabei ist: Das entspricht absolut den Impulsen unserer Studierenden – die machen das sowieso, ohne irgendeine Scheu.

Das I.I.M – Institute for Inspired Movement in Kopenhagen versteht sich als Ausbildungs- und Forschungsplattform im Kontext von Bewegung und Bewusstsein. Unter dem Namen FLOW&U bietet es eine berufsbegleitende, praxisorientierte Eurythmie-Ausbildung an. Die Michael-Stiftung, eine weitere Initiative unseres Stifters Dr. h. c. Peter Schnell, fördert den Ausbau der Ausbildung für drei Jahre. Der Unterricht findet levelübergreifend statt. Unterrichtet wird in Englisch, Dänisch und Deutsch. Der Name FLOW&U ist unter anderem von Otto Scharmers „Theory U – Leading from the Future“ inspiriert. Das U steht als Symbol für Vertiefung, Flow für die Art und Weise, wie diese erfolgt.

Vera Koppehel  ist diplomierte Eurythmistin mit zwei Masters of Arts der Alanus Hochschule (Alfter) in Bühnenkunst und Eurythmietherapie. Sie arbeitet freiberuflich als Performerin und Kulturmanagerin, außerdem betreibt sie eine Praxis für Heileurythmie in Basel. Seit 2018 ist sie Mitglied des Leitungsteams und Dozentin am I.I.M Institute for Inspired Movement in Kopenhagen.