Selbstfindung, Beziehungsarbeit und kritische Reflexion: Interview zu Studienerfahrungen an einer „WaldorfHOCHschule“

Fanny Stein und Tamara Bluhm von links nach rechts
Foto: F. Stein und T. Bluhm v. l. n. r. / Alanus Hochschule

Das Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität in Mannheim bereitet seit fast 50 Jahren angehende LehrerInnen auf das Unterrichten an Waldorfschulen vor. Verschiedene staatlich anerkannte Studiengänge qualifizieren seine AbsolventInnen u. a. auch für heilpädagogische Tätigkeiten in der Behinderten- und Jugendhilfe oder in der therapeutischen Praxis. Sogar eine akademische Laufbahn steht den Studierenden nach einem erfolgreichen Master-Abschluss am Institut offen. Es ist angebunden an den Fachbereich Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, der besonderen Wert auf den Dialog von Waldorfpädagogik mit klassischer Erziehungswissenschaft sowie auf die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden legt.

Darüber, die Bedeutung von Beziehungsarbeit für Lernen und Lehren sowie die Zukunft von Waldorfpädagogik und Institut sprechen die ehemaligen Studierenden Tamara Bluhm (28) und Fanny Stein (32) im Interview. Sie haben beide den Bachelor- und Master-Studiengang „Waldorfpädagogik“ abgeschlossen, danach aber unterschiedliche Karrierewege eingeschlagen. Währenden Tamara Bluhm an einer Waldorfschule als Klassenlehrerin unterrichtet, ist Fanny Stein wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut mit einem Promotionsvorhaben an der Universität Göttingen.

Frau Stein, nach Ihrem Studium am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität sind Sie an Ihrer Alma Mater mittlerweile selbst als Dozentin tätig. Was zeichnet diesen Bildungsort in Ihren Augen aus?
Fanny Stein: Wer hier studiert, ist – anders als das an großen Universitäten häufiger vorkommt – nicht bloß eine Matrikelnummer. Man kennt sich untereinander und es herrscht eine sehr familiäre bzw. herzliche Atmosphäre – nicht nur innerhalb der Studierendenschaft. Auch unsere Dozierenden haben – schon in der Phase der Bewerbung – ein spezielles Augenmerk auf eine individuell abgestimmte Lernbegleitung gerichtet ...

Tamara Bluhm: … und im Laufe des fünfjährigen Studiums immer wieder zusammen mit uns etwas unternommen. Ich erinnere mich zum Beispiel an den jahrgangsübergreifenden Gartentag, bei dem sich die komplette Hochschule Zeit genommen hat, um gemeinsam Unkraut zu jäten, Gemüse zu pflanzen und Beete anzulegen. Dabei konnten wir unsere Lehrkräfte in einer ganz anderen Rolle erleben.

Fanny Stein: Diese Erfahrung macht auch die Lehre noch lebendiger. Sie ist am Institut geprägt von wenigen Vorlesungen. Stattdessen gibt es hier zahlreiche abwechslungsreiche theoretische Seminare sowie praktische Übungen, in denen das Künstlerische einen großen Stellenwert einnimmt.

Inwiefern?
Tamara Bluhm: Die Waldorfpädagogik will bei den Heranwachsenden gleichermaßen intellektuelle, praktische, soziale sowie kreativ-künstlerische Fähigkeiten entwickeln. Dieses Konzept spiegelt sich im Waldorfpädagogik-Studium am Institut deutlich wider – vor allem im Bachelor. Zusätzlich zu den allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Inhalten und der Fachqualifikation, die insbesondere Gegenstand des Masterstudiums ist, umfasst es spezifische waldorfpädagogische Methoden und eben auch künstlerische Elemente – nicht nur in der Theorie, sondern speziell auch in der Praxis. Man könnte sagen: Alles, was ich den Kindern jetzt als Lehrerin zeige, das Malen mit Aquarellfarben, das Rezitieren von Hexametern oder die Pflanzenkunde, habe ich in meinem Studium selbst „durchlernt“.

Fanny Stein: Eurythmie und Musik, Plastizieren oder Sprachgestaltungen leisten dabei auch einen wichtigen Beitrag zur Selbstfindung bzw. Persönlichkeitsbildung der Studierenden, was eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für den Beruf einer Lehrkraft ist. Auch bei meiner Tätigkeit als Wissenschaftlerin hat mir diese Art der Blicköffnung entscheidend geholfen. Sie hat mir den Mut gegeben, eigene Forschungsintentionen zu erarbeiten und mich Themen zuzuwenden, die bisher wenig erforscht sind.

Z. B. den Autonomie-Erfahrungen von SchülerInnen mit Bewegungsangeboten in der Grundschule, die Sie im Rahmen Ihrer Promotion untersuchen ...

Fanny Stein: Das Thema ist für mich deshalb so spannend, weil einerseits die UN-Kinderrechtskonvention den Kindern das Recht auf Mitbestimmung gibt, die aktuellen empirischen Erkenntnisse aber zeigen, dass für sie kaum Mitbestimmungsgelegenheiten in der Grundschule existieren. Das hat vor allem damit zu tun, dass Schule ein hierarchisches Bildungssystem verkörpert, in dem SchülerInnen ihre Lehrkräfte in einer Entscheidungsposition wahrnehmen – und zwar auch dann, wenn ihnen Partizipationsangebote gemacht werden. Mit meiner wissenschaftlichen Arbeit kann ich diesen Kindern eine Stimme geben und Multiplikatorin sein, für die schönen, aber auch traurigen Erfahrungen, die sie im Schulalltag machen.

Frau Bluhm, wie sieht es mit Partizipationsangeboten an Waldorfschulen aus?
Tamara Bluhm: Die Mitbestimmung ist aus meiner Sicht eher etwas, das sich z. B. in der Montessori-Pädagogik findet. Charakteristisch für den Waldorfunterricht erscheint mir vielmehr das Klassenlehrerprinzip, das hilft, eine Verbindung zu den Eltern sowie eine stabile Lerngemeinschaft aufzubauen, die zusammenhält und in der jeder einzelne Schüler, jede einzelne Schülerin mit seinen bzw. ihren Bedürfnissen gesehen wird. Das ist etwas, das übrigens auch am Institut stark ausgeprägt ist. Themen für Hausarbeiten und Prüfungsformen können sehr individuell gewählt werden. Besonders auch auf Studierende mit Kindern wird z. B. bei den Abgabefristen Rücksicht genommen.

Fanny Stein: Auf diese Weise haben wir im Studium durch das eigene Erleben gelernt, dass Pädagogik vor allem Beziehungsarbeit bedeutet. Unsere Dozierenden haben sich immer als LernbegleiterInnen für die persönliche Entwicklung ihrer Studierenden verstanden. Und auch zu meinen Kernanliegen heute als Dozentin gehört es, zu vermitteln, dass es nicht die eine Bildungsbiografie gibt, sondern dass jeder seinen eigenen Weg beschreiten kann. Dies zu ermöglichen und nicht in festgefahrenen Strukturen zu verharren, ist die maßgebliche Aufgabe von WaldorflehrerInnen und die besondere Haltung der Lehrenden an unserem Institut.

Tamara Bluhm: Das stimmt. Man könnte sogar vor diesem Hintergrund sagen, dass das Institut selbst ein bisschen so etwas ist wie eine Waldorfschule – eben nur für Erwachsene bzw. angehende LehrerInnen. Eine „WaldorfHOCHschule“ gewissermaßen.

Muss man, um diese zu besuchen, selbst Waldorfschüler gewesen sein?
Tamara Bluhm: Überhaupt nicht. Wir beide haben keine eigene Waldorfvergangenheit sowie auch einige andere unserer KommilitonInnen. Wichtig sind vielmehr das Interesse an einem anthroposophischen Menschenbild und die Offenheit, sich damit auseinanderzusetzen.

Fanny Stein: Gegenstand des Studiums sind aber natürlich auch verschiedene andere Modelle von Bildung, Lernen und Entwicklung, die in Seminaren oder Übungen unter besonderer Berücksichtigung der bildungspolitischen Dimension sowie immer auch in differenzierter Betrachtung des waldorfpädagogischen Ansatzes erarbeitet werden.

Stichwort kritische Reflexion: Was würden Sie sich, Frau Bluhm, ausgehend von Ihrer Hochschulausbildung und Praxiserfahrung für die Waldorfschule der Zukunft wünschen?
Tamara Bluhm: Ich bin sehr gerne Waldorflehrerin und schätze vor allem die enge Beziehung, die man als Klassenlehrerin zu den SchülerInnen, aber auch den Eltern aufbauen kann. Im ersten Schuljahr habe ich meine Schützlinge den ganzen Tag von acht bis zwölf, teilweise bis 15 Uhr begleitet. Das war sehr schön und hat auch eine belastbare Basis für die schwierige Corona-Zeit geschaffen, in der die für die Waldorfschulen bzw. die Klassengemeinschaft so wichtigen jahreszeitlichen Feste nicht möglich waren. Diese enge Begleitung würde ich mir auch in höheren Klassen wünschen, nicht nur wegen der Bindung, die so entsteht, sondern auch um die FachlehrerInnen zu entlasten. Ein weiterer Punkt ist, dass für echte Beziehungsarbeit, die heutzutage immer essenzieller wird, Klassen mit über 30 Kindern einfach zu groß sind. An dieser Stelle wären aus meiner Sicht auch das Team-Coaching oder das Unterrichten zu zweit innovative Ansätze, die es braucht, wenn individuell gefördert oder das Lernen inklusiv gestaltet werden soll. Hilfreich sind dabei auch die künstlerischen Impulse, die von der Waldorfpädagogik ausgehen. Es ist für jeden etwas dabei. Manche Kinder z. B., die Schwierigkeiten beim Rechnen oder Schreiben haben, können ihre Stärken dann beim Handarbeiten oder Handwerken entfalten. Das wird von den MitschülerInnen in der Klassengemeinschaft gesehen und wertgeschätzt.

Fanny Stein: Inklusive Pädagogik, zu der beispielsweise mehr Gruppen- und Partnerarbeit statt Frontalunterricht beitragen können, ist für mich ein absolutes Zukunftsthema, für das unser Institut mit einem entsprechenden Schwerpunkt im Master junge Menschen bereits im Studium sensibilisiert. Sie legt den Grundstein dafür, dass die Waldorfschule von morgen tatsächlich eine Schule für jedes Kind sein kann – unabhängig von seinem Bildungshintergrund, seiner sozialen Herkunft oder einem möglichen Förderbedarf. Ein Ort, an dem dieser Gedanke bereits gelebt wird, ist die interkulturelle Waldorfschule hier in Mannheim, an der ich nach meinem Master als Lehrerin tätig war und erleben konnte, wie wesentlich sonderpädagogisches Wissen nicht nur für Lehrkräfte ist, die in entsprechenden heilpädagogischen Einrichtungen beschäftigt sind.

Auf die Zukunft des Instituts geschaut, welche Hoffnungen und Erwartungen haben Sie?
Tamara Bluhm: Ich hoffe, dass die besondere Atmosphäre, die das Institut ausmacht und wegen der ich mich sowie viele andere hier für ein Studium entschieden habe, erhalten bleibt – auch wenn das Institut weiter wachsen wird und soll – räumlich wie inhaltlich. Etwa durch neue Studienangebote wie den Master in Beratung und Leitung im inklusiven und therapeutischen Feld, die in den letzten Jahren nach unserem Abschluss hinzugekommen sind. Schön fände ich, wenn das Institut sich auch an anderer Stelle noch stärker öffnet und beispielsweise die Zusammenarbeit mit weiteren Bildungseinrichtungen in Mannheim oder Heidelberg anstrebt. Das könnte auch die Akzeptanz unserer Studiengänge steigern. Sie sind zwar staatlich anerkannt, aber trotzdem bestehen häufig auch Vorurteile und man wird nicht selten abgestempelt, als diejenige, die Kindern und Jugendlichen beibringt, wie sie ihren Namen tanzen. Glücklicherweise tut sich beim Abbau von solchen Klischees vieles, weil immer mehr Eltern von alternativen Lernkonzepten überzeugt sind und über die positiven Erfahrungen ihrer Kinder berichten.

Und Sie, Frau Stein?
Fanny Stein: Als Wissenschaftlerin und Mitarbeiterin am Institut würde ich mir darüber hinaus wünschen, dass wir zunehmend mehr junge Menschen für unsere pädagogischen Visionen begeistern können und es uns gelingt, unsere internationalen wie nationalen Beziehungen auszubauen bzw. zu festigen. Mein größtes Anliegen aber ist es, dass die Waldorfpädagogik den Weg heraus aus der Nische schafft, sowohl bezogen auf die Schulpraxis als auch im Bereich der Wissenschaft. Mit meiner Arbeit möchte ich hierzu beitragen und unsere Forschungserkenntnisse in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft etablieren helfen.