Vom Bild zum Urteil: Qualitätsprüfung mit Kupferchlorid-Kristallen

Forscher beobachtet Bewegung in Petrischale
Foto: Crystal Lab Ottersum

Die Kupferchlorid-Kristallisation zählt zu den sogenannten Bildschaffenden Methoden und kommt in der qualitativen Lebensmittelforschung zum Einsatz: Wässrige Auszüge der zu untersuchenden Stoffe werden mit einer Kupferchlorid-Lösung versetzt und in einer Petrischale unter kontrollierten Bedingungen verdampft, wo sie kristalline Formen bilden. Aus den so entstehenden, charakteristischen Strukturunterschieden schließen WissenschaftlerInnen auf bestimmte qualitative Aspekte der Lebensmittel – eine innovative Erweiterung konventioneller, vor allem quantitativer Untersuchungen.

Bei dieser Betrachtung wird die Dynamik der Kristallentwicklung innerlich nachvollzogen, wie Paul Doesburg erklärt. Der Betreiber des Crystal Lab im niederländischen Ottersum setzt sich schon seit vielen Jahren mit der Kristallisations-Methode auseinander. Er gehört zu den Verantwortlichen eines umfassenden, von der SAGST geförderten Forschungsprojekts, das den inneren Weg vom Bild zum qualitativen Urteil untersucht und zudem wissenschaftliche Leitlinien für die Betrachtung und Auswertung erarbeitet.

Damit die Kristallisation ungestört ablaufen kann, müssen die Schalen mit den Proben ganz ruhig stehen. Ein hoher Rand hält außerdem den Luftstrom ab, der die Verdampfung der Flüssigkeit beeinflussen würde. Da die Lösung von unten erwärmt wird, gibt es Temperaturunterschiede von der Mitte zum Rand der Schalen, die zu Strömungen führen. „Eine hochauflösende Kamera überwacht die Versuchsanordnung und liefert bemerkenswerte Details der Kristallbildung“, erläutert Doesburg. „Bis zu deren Abschluss findet in den Schalen also eine beträchtliche Bewegung statt, danach behalten die Kristalle ihre Form.“

Bewegung innerlich erfahren
„Dank eines Phänomens, das als kinästhetische Empfindung bezeichnet wird – gemeint ist die innere Wahrnehmung von Selbstbewegung –, kann man auch am statischen Kristall Bewegung erfahren“, so der Wissenschaftler weiter. „Dazu muss der Betrachter sich in die Kristallisation einfühlen, genauer gesagt in das geistige Bild, das er aus der intensiven Beobachtung entwickelt hat.“ Die kinästhetische Beteiligung umfasst dabei nicht nur eine solche innere Empfindung, sondern auch motorische Reaktionen auf beobachtete Bewegungen – und das sogar bei unbelebten Objekten. „Der Kunsthistoriker David Freedberg und der Psychobiologe Vittorio Gallese haben Untersuchungen vorgelegt, in denen die Betrachter von Kunstwerken über körperliche Empfindungen berichten“, führt Doesburg aus. „So erlebten sie bei der Betrachtung von Michelangelos Skulpturen der ‚Gefangenen‘ eine gefühlte Aktivierung der Muskeln, die mit den dargestellten, im Stein wie gefangen wirkenden, muskulösen Figuren korrespondierte. Bei den Kristallisationsbildern machen wir diese Erfahrung, wenn wir Wachstum, Krümmung und Spannung der verzweigten Äste der Kristallisationen innerlich nachempfinden.“

Ein zentrales Anliegen des aktuellen Forschungsprojekts ist es, die Auswertungskriterien der Kristallisationsmethode wissenschaftlich nachvollziehbar zu beschreiben. „Von grundlegender Bedeutung dafür sind unsere standardisierten morphologischen Kriterien: etwa die Anzahl und Länge der Seitennadeln oder in welchem Maße die Kristallisation sich aus dem Zentrum heraus entwickelt“, sagt Doesburg. „In Anlehnung an bereits existierende ISO-Normen für sensorische Prüfungen haben wir solche Standards auch für die Bewertung von Kristallisationsvorgängen entwickelt. Das ist ein entscheidender Schritt, weil diese Normen unsere innere Arbeit wissenschaftlich vermittelbar machen.“ Ein zweiter wichtiger Faktor ist die computergestützte Bildanalyse, deren Objektivität der Kristallisationsmethode sowie der visuellen Auswertung eine hohe Glaubwürdigkeit verleiht.

Gestalterkenntnis als Forschungstool
Dank dieser morphologischen, also die äußere Form betreffenden, Kriterien ist es möglich, die Gestalt pflanzenphysiologischer Prozesse wie Reifung und Abbau zu charakterisieren und zu erkennen – Gestalt im Sinne von Strukturen, in denen sich Eigenschaften ausdrücken, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Die analytische Betrachtung wird dadurch ergänzt, dass sich die PrüferInnen in die Bewegung sowie den seelisch empfundenen Ausdruck des Kristallisationsbildes einfühlen und auf diese Weise noch feinere Unterschiede zwischen den Lebensmitteln feststellen können. „Gestalterkenntnis erfasst Komplexität als etwas Ganzes“, so Doesburg. „Sie erkennt Gestaltungskräfte, die auf diese Weise noch im Gegenstandsbewusstsein wahrgenommen werden können. Solche formenden, dynamischen Prozesse bezeichnet man als Morphogenese – ein Phänomen, das in der goetheanistischen Forschung eine zentrale Rolle einnimmt.“ Diese nimmt Bezug auf die naturwissenschaftliche Arbeit Johann Wolfgang von Goethes, der ebenfalls nach einer Art Urbild von Organismen und wesenstypischen Gestaltmerkmalen suchte.

Um die Testpersonen der visuellen Bewertungspanel zu schulen, finden regelmäßige gemeinsame Trainings mit der sogenannten „Think aloud“-Methode statt: Dabei teilen alle ihre Gedanken beim Evaluationsprozess mit der Gruppe, um deutlich zu machen, welche Wahrnehmungsansätze sie bei der Arbeit mit den Bildern anwenden. Hinzu kommen regelmäßige Untersuchungen von Kristallisationsbildern, bei denen das Panel z. B. verschiedene Reife- oder Abbaustadien oder auch unterschiedliche Anbaumethoden (konventionell, biologisch, biologisch-dynamisch) zuordnen und klassifizieren muss. Die individuellen Einschätzungen werden durch den Vergleich untereinander wissenschaftlich verwertbar, zudem zeigt der Durchschnitt der Bewertungen in Blindtests eine sehr hohe Übereinstimmung, berichtet Doesburg: „Diese Technik der überwachten Klassifikation ist ein anerkannter wissenschaftlicher Ausbildungsansatz, um die für die Interpretation nötigen Fähigkeiten weiterzuentwickeln.“