Achtung, Eurythmie!

Füße in verschiedenfarbigen Eurythmieschuhen
Foto: C. Fischer

Seit September 2020 kommt die Eurythmistin Vera Koppehel alle zwei Wochen nach Darmstadt und gestaltet drei Gruppenkurse für insgesamt rund 30 Mitarbeitende sowie zusätzlich Einzelstunden für etwa die Hälfte dieser KollegInnen. Ausgehend von den positiven Erfahrungen bei der diesjährigen Jahresklausur wurde damit der Wunsch aufgegriffen, gemeinsam die Wirkung der Eurythmie näher kennenzulernen. „Wir wollen dadurch mehr Bewegung und Rhythmus in unsere Arbeit einbinden“, erläutert Vorstand Peter Augustin. „Denn wir alle starren ja unglaublich viele Stunden auf Bildschirme, ob am Computer oder vor dem Handy. Andauernd sitzen wir am Schreibtisch oder in Meetings und arbeiten in dem Takt, den uns E-Mail-Programme, Kalender und To-do-Listen vorgeben. Doch Takt ist nicht lebendig – Rhythmus ist lebendig!“ Dabei sei nicht nur äußere, sondern auch innere Beweglichkeit von großer Bedeutung, so Augustin weiter: „Sich in den anderen hineinzuversetzen, Neues zu denken und auszuprobieren – das sind Dinge, die gerade bei einer so komplexen Organisation wie unserer wichtig sind. Hinzu kommt der Aspekt der Gesundheitsprophylaxe. Auch hier haben wir natürlich eine Verantwortung für unsere Mitarbeitenden.“

Nach einem ersten Testlauf konzipierte Vera Koppehel drei Gruppenangebote mit verschiedenen Schwerpunkten: mit anregenden und motivierenden Bewegungen, stärkender und ausgleichender Wirkung oder mit konzentrationsförderndem Ansatz. Integriert sind außerdem meditative Elemente sowie praktische Tipps für den Büroalltag wie Übungen gegen verspannte Schultern, angestrengte Augen oder Hände. „Da ich Eurythmie schon in anderen Zusammenhängen als ausgesprochen wohltuend erlebt habe, war ich natürlich gespannt, wie es nun in dieser Form laufen würde“, sagt Christine Hueß, Leiterin Kommunikation. „Zufällig waren in meinem Kurs vor allem Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich sonst eher weniger eng zusammenarbeite. Ich war erstaunt, dass es trotzdem wie auf Knopfdruck funktioniert hat und das Üben in der Gruppe sehr harmonisch ablief. Ohne viele Worte, einfach im gemeinsamen Tun.“ Auch als das Programm wegen der erschwerten Reisemöglichkeiten für Vera Koppehel nur virtuell per Video-Stream stattfinden konnte, war die Resonanz bei den Teilnehmenden gut.

Teambuilding und mehr
„Ich hätte nicht gedacht, dass die Eurythmie eine solche Wirkung hat“, gesteht Susanne Bach-Kramesch, die als Mitarbeiterin für die Revision zuständig ist. „Sie stärkt die Konzentration und macht entspannter. Je nach Übung wird man wacher oder die Atmung wird ruhiger. In unserem Kurs hat das Ganze auch einen teambildenden Charakter, denn wir machen einige Übungen, bei denen wir auf die anderen achten müssen.“

Ähnlich geht es Irene Seeligmüller, die im Projektmanagement tätig ist und neben den Gruppenübungen auch Einzelstunden erhalten hat. „Obwohl ich beide Formate ganz unterschiedlich erlebe, ist das geistige und körperliche Empfinden im Nachklang zu diesen Stunden absolut vergleichbar“, sagt sie. „Für mich ist es zudem ein besonderes Erlebnis, zusammen mit meinen Vorständen und Kollegen in eine gemeinsame Bewegung zu kommen.“ Auch Vorstandsassistentin Franziska Evans ist überrascht, wie intensiv die Übungen wirken: „Ich habe sie als Mut machend und anregend erlebt. Nach der ersten gemeinsamen Stunde fühlte ich mich noch lange davon erfüllt.“

„Mir ist es wichtig, dass die Eurythmie zum Leben und Arbeiten dazugehört und nicht als kurze Ausnahmesituation empfunden wird“, schildert Vera Koppehel ihren Ansatz. „Das scheint hier tatsächlich zu klappen. Es gibt Rückmeldungen, dass sich das Betriebsklima positiv entwickelt, dass der Umgang miteinander achtsamer, zugewandter und aufmerksamer geworden ist – eigentlich erstaunlich, weil wir ja gar nicht so viel Zeit miteinander verbringen.“ In den Einzelstunden reichen die Themen von gesundheitlichen über biografische Herausforderungen bis hin zu spirituellen Fragen. „Ich glaube, viele Mitarbeitende spüren, dass das Potenzial der Eurythmie weit über klassische Gesundheitsprophylaxe hinausgeht“, freut sich die Eurythmistin. „Es ist beeindruckend, dass das so fein wahrgenommen und sensibel beschrieben wird.“

Alltagstauglich und nachhaltig
Christian Wüst hat als ehemaliger Waldorfschüler sozusagen schon eine Grundausbildung in Eurythmie absolviert, wie der Projektleiter schmunzelnd erklärt. Später habe es eine „Fortbildung“ in Heileurythmie gegeben, die seinen Heuschnupfen deutlich gelindert habe. „Daran wollte ich nun anknüpfen“, erzählt er. „Besonders beeindruckt mich, die verschiedenen Qualitäten der Bewegungen wahrzunehmen, auf die Vera Koppehel uns hingewiesen hat. Bei mir persönlich wirkt die Eurythmie nach, indem ich versuche, regelmäßig die Bewegungen zu üben.“

Auch Kim Schönborn, Mitarbeiterin im Bereich Kommunikation, konnte die Impulse aus den Gruppen- und Einzelstunden bereits nach kurzer Zeit des Wiederholens einfach und flexibel in ihren Alltag integrieren. „So trage ich das Werkzeug für ein Stück Ausgeglichenheit immer bei mir“, sagt sie. Gleichzeitig empfand auch sie das Praktizieren in der Gemeinschaft als besonders wertvoll: „Dadurch habe ich meine Kolleginnen und Kollegen noch einmal auf eine ganz neue Weise wahrnehmen können. Vor allem die koordinativen Übungen, bei denen es darum geht, sich mit dem Gegenüber abzustimmen und in einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, waren sehr eindrucksvoll.“

Projektleiter Cornelius Sträßer kennt Eurythmie ebenfalls schon aus der Kindergarten- und Schulzeit und hat sich während des Studiums sowie später als Erwachsener weiter damit beschäftigt. „Eurythmie hilft mir, Kräfte zu mobilisieren und eine Verbindung zwischen Körper und Geist herzustellen“, so seine Erfahrung. „Sie erzeugt innere Harmonie, Gelassenheit und Ruhe, aber auch Frische und Aufmerksamkeit, die sogar einige Stunden nach den Übungen noch anhält.“ Darüber hinaus erlebt er auch positive Effekte auf Atmung und Wärmehaushalt, bekommt zum Beispiel warme Hände und Füße.

Potenziale erforschen
„Obwohl die Eurythmie schon über hundert Jahre alt ist, hat man das Gefühl, dass ihre Möglichkeiten erst jetzt so richtig erkannt werden – das belegen ja auch die vielen Beiträge in unserem Stiftungsmagazin zum Thema“, meint Peter Augustin. „Auch wenn es schon länger Angebote wie Sozialeurythmie für Unternehmen gibt, betreten wir mit Vera Koppehel doch durchaus Neuland.“ Wesentlich ist für ihn deshalb der forschende Blick, das gemeinsame Erproben, ob und wie die Eurythmie auf die Stiftungsprozesse ausstrahlen kann. Augustin selbst macht jeden Morgen und Abend zu Hause entsprechende Übungen, wie er verrät: „Ich habe auch im ersten Lockdown bei längeren Online-Meetings eurythmische Interventionen gemacht. Ich habe einfach ein Schild vor die Kamera gehalten: ‚Achtung, Eurythmie!‘. Dann sind wir alle aufgestanden und haben ein paar Übungen aus der Vitaleurythmie aufgegriffen.“ Sofort sei das Geschehen aufgelockert worden, alle waren wieder frischer und konzentrierter. Wer Augustins Büro betritt, bekommt auch schon mal einen Eurythmiestab aus Kupfer zugeworfen. „Häufig müssen die auf diese Weise Überraschten dann erst einmal lachen“, berichtet er. „Das ist doch großartig: Lacheurythmie statt Lachyoga! Außerdem erlebe ich seit unseren gemeinsamen Eurythmiestunden, dass ich liebevoller auf die anderen schaue. Genau damit ist schon viel gewonnen, finde ich.“