Berührung über das Sehen
Das menschliche Auge ist mehr als nur eine Eintrittspforte für optische Reize. Da sind sich Gisela Herlt und Esther Reimann-Liehr sicher. Die beiden Frauen arbeiten für Lichtblick e. V. – einen kleinen anthroposophisch orientierten Verein mit Sitz in Schwörstadt (Landkreis Lörrach). Sein Ziel ist es, künstlerische und forschende Arbeit mit geschliffenem Farbglas und dessen Wirkung auf die Gesundheit zu fördern. „Metallfarblichttherapie“ nennt sich das kunsttherapeutische Verfahren, das zu den begleitenden Therapieformen der anthroposophischen Medizin gehört. Esther Reimann-Liehr, die sich um die Vereinsorganisation kümmert, verdeutlicht: „Metallfarblichttherapie ist eine Berührung über das Sehen. So melden es uns die empfangenden Menschen zurück.“ Wichtig findet sie, dass die Therapie einen aufnehmenden Charakter habe, keinen ausdrückenden wie etwa die Malerei.
Glas, Farbe, Metall und Licht
Während einer Sitzung scheint Tageslicht durch farbiges, künstlerisch gestaltetes Glas. Metallzusätze von Eisen, Kupfer, Silber oder Gold geben den Glasplatten ihren ganz eigenen Charakter. Künstlerische Glasradierungen erhöhen dabei die Wirkung der jeweiligen Metallfarbe. Das durchscheinende Licht vermittelt den BetrachterInnen spezifische Qualitäten der Metalle wie Wärme oder Kühle, Ruhe oder Bewegung, strukturierende Formkraft oder Auflösung und schafft eine neue Beziehung zum Licht. Vorstandsmitglied Gisela Herlt erläutert: „Der Sehsinn ist natürlich der erste Kontakt mit unserer Therapieform: Die Augen ermöglichen eine Begegnung zwischen Glas und Empfänger.“ Doch es gebe noch eine weitere, tiefere Ebene: „Die Betrachtung des monochromen Glases lässt ein inneres Bild entstehen, wie eine Antwort auf das Gesehene. Manchen Menschen zeigt sich, wenn sie den Blick vom getönten Glas abwenden, die komplementäre Farbe. Sie sehen diese im Außen, zum Beispiel auf einer Fläche, aber auch innerlich, wenn sie die Augen schließen.“
Begegnung in der Stille
Eine Patientin beschreibt ihre Eindrücke wie folgt: „Das Zimmer ist dunkel. Ich sitze in einem bequemen Sessel, die Füße hochgelegt. Meine Therapeutin hat eine Decke über mich gebreitet. Bedächtig nimmt sie ein Tuch weg und ich kann sehen, was zuvor bedeckt gewesen ist: Durch eine fenstergroße grüne Glasplatte scheint helles Tageslicht in den ansonsten finsteren Raum. Ruhe durchströmt mich. Ich muss nichts tun. Nur Stille um mich herum. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an den farbigen Schein. Langsam wandert mein Blick über die Muster und Formen, die in die Glasplatte graviert sind. Sie wirken organisch, erinnern mich an Pflanzen. Ich erkenne lebendige Strukturen. Die Lautstärke meiner Gedanken schweigt. Ich bin ganz bei mir selbst. Eine Begegnung in der Stille.“
Marianne Altmaier und Lichtblick e. V.
Die therapeutische Anwendung von Metallfarblicht geht auf Marianne Altmaier (1949 bis 2013) zurück. Nach langjähriger Tätigkeit als Kunsttherapeutin am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke wechselte sie nach Dornach, an die Sektion für bildende Künste des dortigen Goetheanums. Ab 2001 leitete sie hier die Erforschung und Entwicklung der Farblichttherapie als Metalltherapie mit radiertem Glas. Zeitgleich entstand der Verein Lichtblick e. V. mit den Gründungsmitgliedern Marianne Altmaier, Birgit Anders, Bärbel Bläser, Matthias Braselmann, Roswitha Salzwedel, Dr. Dieter Spitta, Thorwald Thiersch und Lucien Turci. Heute engagieren sich mehr als 60 Menschen aus Deutschland, Frankreich, Finnland, Österreich, Schweden, der Schweiz und den USA für die Metallfarblichttherapie, die inzwischen praxisreif ist und in verschiedenen Kliniken und heilpädagogischen Einrichtungen eingesetzt wird. Seit 2010 bildet Lichtblick e. V. berufsbegleitend Metallfarblicht-Therapeuten aus.
Der Reigen der Zwölf
Beatrice Hallquist, anthroposophische Ärztin aus Schweden, berichtet aus ihrer Erfahrung: „Die Therapiegläser sind nicht einfach nur große Farbflächen. Gravuren im Glas schaffen vielfältige Hell-Dunkel-Nuancen und rhythmisieren das Schauen. (…) Schließlich wird mithilfe der Gläser der Blick nach innen gelenkt und man kann ganz intim persönlich Wesentliches erleben.“
Die Farbwelt der Therapiegläsern umfasst sechs rötliche Töne, die von innen her aktivieren und erhellen, sowie sechs blaue bzw. grüne Töne, die von außen beruhigen, einhüllen und verdunkeln. Daraus ergibt sich ein Reigen aus zwölf Grundqualitäten:
- Silberorange
- mittleres Schwefelrot
- dunkles Schwefelrot
- Kupferrot
- Rotgold
- Purpurgold
- Eisengrün
- Eisenblau
- Kupferblau
- Kobaltblau
- Kobalt-Nickel-Manganviolett
- Manganviolett
Einsatz in Praxis und Klinik
Zur Anwendung kommt die Metallfarblichttherapie als Ergänzung zur Schulmedizin sowohl in Kliniken und therapeutischen Einrichtungen als auch in niedergelassenen Praxen. Gisela Herlt fasst zusammen: „Die Begegnung löst im Seelisch-Geistigen verschiedene Reaktionen aus, die bis ins Körperliche hineinwirken.“ Aufgrund der ausgleichenden Effekte kann Metallfarblicht bei unterschiedlichen Indikationen unterstützen:
- bei muskulären Verspannungen der Wirbelsäule, oft auch in Kombination mit Schlafstörungen
- zur Symptomlinderung bei Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündung, Bronchitis oder Asthma
- zur Harmonisierung der Herz-Kreislauf-Tätigkeit
- zur Stärkung der Verdauung sowie Anregung der Pankreas- und Gallenfunktion
- bei Migräne oder Psoriasis und bei Autoimmunkrankheiten
- zur Verkürzung von Schüben und den Zeiträumen dazwischen bei chronisch wiederkehrenden Erkrankungen wie Colitis Ulcerosa, Morbus Crohn, Fibromyalgie und rheumatischen Beschwerden
- bei Krebsleiden
- zum Aufbau der Lebenskräfte nach Chemotherapien oder bei Erschöpfungszuständen
- bei depressiven Verstimmungen
- nach Schockerlebnissen
Forschung und Blick in die Zukunft
Die Filderklinik bei Stuttgart wendet Metallfarblicht seit 2003 an – sowohl therapeutisch als auch forschend. So führte Dr. Ludger Simon (†2016) eine Rheumastudie durch, deren Ergebnisse im unten erwähnten Buch veröffentlicht wurden. Auch die Messungen von Dr. Jan Vagedes und Angela Steer-Reeh zur Herzfrequenzvariabilität und zur Atmung unter Anwendung von goldrotem und kobaltblau gefärbtem Glas an gesunden ProbandInnen fanden an der Filderklinik statt – ebenfalls im Buch von Marianne Altmaier nachzulesen. Zur Belastungsverbesserung von Frauen mit Brustkrebs startete im Herbst 2023 unter der Leitung von Dr. med. Friedemann Schad eine Studie am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe. Therapieansatz war vor allem die Linderung von Belastungssymptomen und die Verbesserung der Lebensqualität von Frauen mit Brustkrebs. Sie erhielten die Metallfarblichttherapie ergänzend zu ihrer Behandlung im Brustkrebszentrum.
Zum Weiterlesen:
Marianne Altmaier. Metallfarblichttherapie: Zur Forschung und Entwicklung einer neuen Therapie auf anthroposophischer Grundlage. Info 3 Verlag, Frankfurt am Main, 2010.