Schmackhaft gemacht: Gesundes Essen mit Kindern
Wie entwickeln kleine Kinder ihren Geschmackssinn und wie können Eltern die Grundlagen für eine gesunde Ernährung legen? Die Ernährungsberaterin Gabriele Bödeker und die Ärztin Dr. Gabriela Stammer berichten im Interview über ihre Erfahrungen, die auch in die Angebote des neuen Gesundheitszentrums „Wir in Wennigsen“ bei Hannover einfließen.
Unser Geschmacksempfinden wird in der Kindheit angelegt. Ist diese Prägung von Dauer oder lässt sie sich verändern?
Bödeker: Aus der Ernährungspraxis weiß ich, wie wichtig es gerade in jungen Jahren ist, vielfältige Geschmackserlebnisse kennenzulernen sowie eine gewisse Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit bei der Zubereitung von Speisen zu entwickeln. Kinder, die Fertigprodukte gewöhnt sind, wissen oft nicht, was echte Lebensmittel sind, wie sie riechen, schmecken und zu verarbeiten sind. Gleichwohl ist Geschmack entwickelbar. Meine Geschwister und ich sind ein gutes Beispiel dafür: Obwohl wir ähnliche Prägungen durch gemeinsame Mahlzeiten haben, entwickelten sich unsere Geschmäcker im Laufe der Zeit unterschiedlich. Die eigene Persönlichkeit spielt dabei eine große Rolle.
Wie können wir lernen, uns für neue Geschmackserlebnisse zu öffnen?
Bödeker: Vormachen und einbeziehen. Ich habe mit meinen Kindern gerne in Hofläden eingekauft. Dort gab es eine Vielfalt an frischem Gemüse, es duftete nach Korn und frischgebackenem Brot. Ich wollte ihnen von Anfang an vermitteln, wo unsere Lebensmittel herkommen und dass Ernährung bzw. die Zubereitung von Essen etwas ganz Normales ist, ja, etwas Wunderbares – und keine Last. So sind sie auf natürliche Weise in diese Themen hineingewachsen. Dass kleine Kinder eine Scheu vor Neuem haben, ist normal. Wir Erwachsenen dürfen sie nicht mit unserem bereits entwickelten Geschmackssinn überrollen! Mein Tipp ist, sie einfach mal machen zu lassen und auch nicht zu früh mit Messer und Gabel zu überfordern. Kinder wollen ihre Nahrung mit allen Sinnen erleben. Das ist wichtig für eine gesunde Entwicklung und für Offenheit im Umgang mit Essen.
Stammer: Sie sollten ihre Erfahrungen außerdem im eigenen Tempo erweitern dürfen. Ja, Vielfalt ist ab einem gewissen Alter wichtig, aber Kleinkinder brauchen nicht jeden Tag ein anderes Fertiggläschen. Der kleine Magen und das Mikrobiom des noch jungen Darmes sind damit überfordert. Wir müssen Geschmack erst erlernen dürfen. Dazu gehören Neugier, Demut und Respekt vor Lebensmitteln. Es geht also auch um die Grundhaltung, um einen Gegenentwurf zu „bequem, lecker und suchtgesteuert“. Zucker und Geschmacksverstärker haben unsere Gesellschaft so fest im Griff, dass natürliche Lebensmittel kaum mehr eine Chance bekommen. Wenn Kinder nur mit Fertigprodukten der Industrie gefüttert werden, muss die Möhre dann nämlich bitte auch schmecken wie aus dem Gläschen, der Apfel wie das Mus aus dem Quetschie! Dabei ist es gar nicht schwer, selbst zu kochen – wozu wir in unseren Beratungsangeboten deshalb auch ermutigen wollen.
Es gibt Hinweise darauf, dass viele Kinder klassische Geschmacksrichtungen gar nicht mehr unterscheiden können.
Bödeker: Ja, das ist erschreckend, aber nicht verwunderlich, wenn wir uns anschauen, was ein Großteil der Kinder täglich zu sich nimmt: Fastfood, Softdrinks, Süßigkeiten. Ich betreue Fälle von adipösen Kindern, die meiner Meinung nach Opfer des umgebenden Systems sind. Dazu gehören die familiären Gewohnheiten, mangelndes Ernährungswissen und fehlende Esskultur.
Stammer: Außerdem degenerieren unsere Geschmacksknospen, wenn wir sie nicht herausfordern. Vor allem Zucker ist eine Sucht erzeugende Substanz.
Auch die Werbung prägt mit scheinbar perfekten Bildern von Nahrungsmitteln unsere Vorstellungen. Welche Rolle spielen visuelle Eindrücke für unser Geschmacksempfinden?
Stammer: Eine makellose, gerade Möhre schmeckt nicht zwangsläufig besser als die krumme Möhre, die vielleicht sogar noch einen Riss hat. Vorschriften und EU-Normen suggerieren uns diesbezüglich etwas, das nicht der Wahrheit entspricht. Hier lässt sich unsere Gesellschaft durch oberflächlich perfekte Optik täuschen.
Bödecker: Untersuchungen zeigen, dass biologisch und vor allem auch biodynamisch angebaute Lebensmittel vielfältigere Zellstrukturen aufweisen. Das wirkt sich auf ihren Geschmack aus. Im Familienkreis haben wir neulich während einer Wanderung verschiedene Gurken verkostet. Die krumme Demeter-Gurke hatte geschmacklich die Nase vorn!
Stammer: In unserem Gesundheitszentrum wollen wir genau solche Verkostungen veranstalten. Und wir legen Hochbeete an, um zu zeigen, dass die Möhre eben nicht im Regal des Supermarktes entsteht, sondern in der Erde wächst. Solche Erlebnisse sind wichtig für Kinder. Ich bin schon jetzt auf den Geschmackstest gespannt!
Dr. med. Gabriela Stammer und Gabriele Bödeker gehören zu den Initiatorinnen des neuen Gesundheitszentrums „Wir in Wennigsen“ bei Hannover. Es unterstützt junge Eltern mit vielfältigen Kursangeboten rund um Geburt, Familie und Gesundheit, darunter auch eine offene Ernährungssprechstunde.
Mehr dazu unter: https://www.sagst.de/was-wir-foerdern/projekteinblicke/einblick/gesundheitskompetenz-in-familien-staerken