Über den Einfluss von pflanzenbasierter Ernährung auf Körper, Geist und Gefühl

Dr. Melanie Neumann im Gespräch
Foto: C. Fischer

„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, sagt man. Umgekehrt können uns bedrückende Nachrichten sprichwörtlich auf den Magen schlagen. Über diesen Zusammenhang sprach implizit im Interview mit Dr. Melanie Neumann. Sie ist u. a. Therapeutin für Emotionalkörper-Therapie sowie Privat-Dozentin an der Universität Witten/Herdecke, wo die Soziologin und Medizinpsychologin aktuell zu der Frage forscht, wie sich eine pflanzenbasierte Ernährung auf das seelisch-leibliche Wohlbefinden auswirkt. Neben ersten Ergebnissen dieser qualitativen Studie verrät sie der Redaktion auch, wie Corona unser Essverhalten beeinflusst hat und weshalb sie nichts von Empfehlungen hält.

Was ist der Grund dafür, dass Ernährung einerseits unseren Gemütszustand beeinflusst und sich andererseits unsere Psyche auf unseren Appetit auswirkt?

Melanie Neumann: Als Menschen sind wir nicht nur eine Einheit von Körper, Geist und Gefühl, sondern als solche auch eng mit unserer Umwelt verbunden. Anders gesagt: Alles steht in Wechselwirkung miteinander. Festgehalten hat dies der amerikanische Internist und Psychiater George L. Engel bereits in den 1970er-Jahren mit seinem „Biopsychosozialen Modell“. Es geht davon aus, dass Gesundheit bzw. Krankheit nicht rein mechanistisch, sondern als Interaktion von physischen, psychischen und sozialen sowie Umwelt-Faktoren zu verstehen sind. In der Medizin kennt man diesen integrativen Ansatz schon länger, in der Ernährungsforschung hingegen wird er noch nicht so häufig angewendet. Dabei gibt es auch hier Zusammenhänge, die jeder ganz einfach bei sich selbst nachvollziehen kann: Körperliche Bewegung beispielsweise zügelt bei vielen Menschen den Appetit, sorgt nachweislich für eine vermehrte Ausschüttung von Glückshormonen und macht auch mental wacher. Sehr konzentrierte Kopfarbeit hingegen kann zu einem verstärkten Hunger nach Zucker bzw. Kohlenhydraten und folglich zu Übergewicht führen. Umgekehrt können durch eine leichtere Kost oder auch mal das Auslassen von Mahlzeiten – wie etwa beim Intervallfasten – geistige und auch körperliche Tätigkeiten leichter von der Hand gehen.

Und welchen Einfluss hat unsere Umwelt?

Melanie Neumann: Einen wesentlichen. Denken Sie beispielsweise daran, dass ein gemütliches Essen in Gemeinschaft ein ganz anderes Genusserlebnis bedeutet, als wenn man allein schnell etwas hinunterschlingt. Es fehlt die Atmosphäre, die besondere Stimmung, die durch ein bestimmtes Umfeld hervorgerufen wird und uns zum Beispiel im Kreise der Familie vielleicht mehr, aber eben auch genussvoller essen lässt, als wenn wir alleine am Essenstisch sitzen. Sehr deutlich spürt man das auch, wenn man aus dem Urlaub zurückkehrt und das kulinarische Mitbringsel daheim nicht mehr so gut schmecken will wie auf der Terrasse des Lieblingscafés mit Blick auf das Mittelmeer. Das liegt nicht daran, dass sich das Lebensmittel auf einmal verändert hätte, sondern an der fehlenden Umgebung und den Emotionen, die diese weckt. Weitere Umweltfaktoren stellen auch das Wetter bzw. die Jahreszeit dar. Sie kann sich ebenfalls auf unsere Essensgelüste auswirken: Während uns im Sommer eher nach einem leichten Salat und Eis ist, gehören im Winter für viele eher wärmende und deftige Gerichte einfach dazu. Aber auch die Medien – vor allem die digitalen – können mit ihren Superfoodtrends und Diäten, die sie fast täglich neu hypen, Essverhalten beeinflussen und im Extremfall sogar krankhaft stören.
    
Sie selbst haben sich für eine weitgehend vegane Ernährungsweise entschieden und ihren Einfluss auf unser seelisch-leibliches Wohlbefinden erforscht. Welche Vorteile bietet der Verzicht auf tierisches Eiweiß?

Melanie Neumann: Wir wissen mittlerweile, dass eine mehr pflanzenbasierte Ernährung die Selbstheilungskräfte der Erde sowie der Natur stärken könnte und damit automatisch auch die des Menschen. Studien zeigen darüber hinaus, dass eine vegane Ernährungsweise – im Vergleich zu omnivorer und häufig auch zu vegetarischer Ernährung – auf Erkrankungen wie Krebs, Diabetes, Osteoporose, Bluthochdruck sowie andere Herz-Kreislauf-Beschwerden und sogar degenerative Gehirnerkrankungen wie Parkinson eine signifikant positive oder präventive Wirkung haben kann.

Woran liegt das?

Melanie Neumann: Unter anderem lässt der Verzicht auf tierische Eiweiße z. B. Entzündungen zurückgehen und senkt das Cholesterin sowie die Säurebelastung. Insgesamt wird weniger Fett absorbiert und die Autophagie, also die körpereigene Entschlackung der Zellen, ebenfalls in Gang gesetzt.

Welche Effekte kann das auf die Psyche haben?

Melanie Neumann: Zum Einfluss pflanzenbasierter Ernährung auf die psychische Gesundheit gibt es international bislang nur wenige quantitative Studien. Sie legen jedoch nahe, dass Veganer tendenziell weniger unter Stress, Ängsten oder Depression leiden und dadurch eine größere Leistungsfähigkeit sowie höhere Lebensqualität haben. Unsere qualitative Forschung an der UW/H hat zudem ergeben, dass die Umstellung auf eine vegane Ernährungsweise viele psychologische Ressourcen wie etwa Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit sowie generell mehr Lust auf Aktivität freisetzten kann – das gilt aber sehr wahrscheinlich auch für jede andere intrinsisch motivierte Diät.

Weshalb ist Ihrer Einschätzung nach ein bewusster Umgang mit dem Thema „Ernährung“ so wichtig?

Melanie Neumann: Wir leben heutzutage sehr stark im Außen und richten immer weniger Aufmerksamkeit auf unser Inneres. Viele haben daher verlernt, in sich hineinzulauschen und wahrzunehmen, was der eigene Körper eigentlich braucht. Gleichzeitig war es noch nie so schwer, auf das persönliche Bauchgefühl, die Intuition zu hören wie in unserer gegenwärtigen Überflussgesellschaft mit ihren vielen Lebensmittelangeboten, Informationen und Reizen sowie diversen Geschmackskomponenten. Sie finden sich in den meisten fertigtverarbeiteten Lebensmitteln und sind verantwortlich dafür, dass wir beispielsweise Joghurt mit richtigen Erdbeeren häufig gar nicht mehr so schmackhaft finden wie einen mit künstlichen Aromen. Diese Verstärker können süchtig machen – speziell wenn wir gestresst sind – und daraus kann eine ungesunde Ernährungsweise resultieren. Dabei kommen wir Menschen in der Regel von unserer körperlichen „Ausstattung“ her perfekt auf die Welt und wissen automatisch, was uns guttut. Ein bewussterer und intuitiverer Umgang mit dem, was wir zu uns nehmen, kann also helfen, diese angeborene Körperwahrnehmung wieder zu gewinnen, und kann z. B. verhindern, dass wir Essen instrumentalisieren, um unsere Seele zu trösten. Ein Phänomen, das während der ersten Corona-Welle übrigens häufig zu beobachten war und bei den Deutschen zu einem vermehrten Schokoladenkonsum sowie zur Gewichtszunahme geführt hat. Auch hier greift wieder das Biopsychosoziale Modell: Fehlen die sozialen Verbindungen im realen Leben sowie der Sinn im Beruf oder Freizeit, sind viele Menschen seelisch-emotional nicht mehr so gut genährt und versuchen u. a., die entstandene Lücke mit etwas Materiellem zu füllen.

Was würde stattdessen helfen?

Melanie Neumann: Da Autonomie eines der wichtigsten psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen ist, empfinde ich das Geben von Empfehlungen als schwierig und weniger effektiv. Darüber hinaus sind wir alle Individuen und so kann eine vielleicht gerade gehypte Diät einfach nicht für jeden gleichermaßen passen. Jeder Mensch ist anders und darf daher seinen eigenen Weg finden, um wieder mehr ins Spüren, in die Intuition und ins Wahrnehmen seiner körperlichen Bedürfnisse zu kommen. Dies kann dem einen z. B. gelingen, indem er spazieren geht und die Natur bewusster wahrnimmt. Ein anderer praktiziert Yoga, der nächste joggt vielleicht und ein anderer spielt oder singt mit seinen Kindern bzw. kuschelt mit dem Hund. Jeder hat eben seine ganz individuelle Einflugschneise. Ich beschäftige mich beispielsweise mit körpertherapeutischen Methoden, wie der Emotionalkörper-Therapie (EKT) und dem 5-Rhythmen-Tanz. Ich konnte bei mir feststellen, dass die EKT-Meditation mir helfen kann, meine Körper- und Gefühlswahrnehmung zu verbessern. Je mehr ich meine Bedürfnisse auf diese Weise körperlich erlebe und innerlich spüre, umso weniger laufe ich Gefahr, meinen Gefühlen beispielsweise mit einer Essattacke, Alkohol oder gar anderen Drogen zu begegnen. Bei der EKT ist ein wesentlicher Baustein neben dieser Achtsamkeit auch die Akzeptanz. Es geht nicht darum, den – sagen wir – Hunger auf Süßes einfach nur weg haben zu wollen. Denn Druck erzeugt schließlich nur Gegendruck. Vielmehr steht im Mittelpunkt der EKT, diesen Heißhunger erst anzunehmen – es hat ja einen Grund, warum er da ist –, um dann selbst herauszufinden, woher diese Gelüste eigentlich kommen und welche individuellen Lösungen es dafür geben könnte. Dieser Ansatz hat sich nicht nur mit Blick auf die Ernährung bzw. Ernährungsstörungen bewährt, sondern auch bei psychischen Belastungen und sogar körperlichen Beschwerden in jeder Altersgruppe.