Von Kopf bis Fuß in Bewegung: Der Wald als natürlicher Entwicklungsraum

Bau einer Hängematte: Kinder spielen im Wald
Foto: T. Wiersberg

Jeden Morgen gegen acht Uhr trudeln die „Wildlinge“ im Wald ein: In wetterfester Kleidung und ausgestattet mit einem kleinen Rucksack, in dem ihr Frühstück steckt, verbringen die Zwei- bis Sechsjährigen gemeinsam mit drei Pädagoginnen den Vormittag draußen in der Natur. Die meisten von ihnen wohnen in der benachbarten Gemeinschaft Schloss Tempelhof, einer Ökosiedlung im Norden Baden-Württembergs. Hinzu kommen weitere Mädchen und Jungen aus den umliegenden Ortschaften. Zusammen erleben sie den Wald im Wechsel der Jahreszeiten, bei Sonnenschein ebenso wie bei Regen – und immer in Bewegung. Für extreme Wetterlagen steht eine originelle Unterkunft bereit: Mit finanzieller Unterstützung der SAGST konnte der Trägerverein einen Zirkuswagen kaufen, den SchülerInnen der Freien Schule am Tempelhof im Rahmen eines Bauprojektes für den Kindergarten umgebaut haben.

Vielfalt und Veränderung erleben
Femke Stollberg leitet den Waldkindergarten seit 2019. Sie ist ausgebildete Sprachtherapeutin und hat Kindheitspädagogik studiert. „Der Wald bietet eine natürliche, unglaublich abwechslungsreiche Umgebung. Wir müssen nichts künstlich schaffen, es ist alles schon da“, erklärt sie. „Da sind Bäume zum Klettern, Hänge zum Rutschen, Bäche zum Matschen – hinter jeder Ecke gibt es eine Überraschung, nichts ist vorhersehbar.“ „Ein zentraler Unterschied zu jeder noch so aufwendig gestalteten Spielumgebung in geschlossenen Räumen besteht darin, dass der Wald nicht nur facettenreich ist, sondern auch dauernd im Wandel“, ergänzt Rüdiger Bachmann vom Verein Schloss Tempelhof. Er lebt seit acht Jahren hier, war an der Gründung der Freien Schule beteiligt und verantwortet heute das Qualitäts- und Entwicklungsmanagement verschiedener pädagogischer Initiativen der Gemeinschaft. Gelegentlich springt er auch als Betreuer ein und unterstützt das „Wildlinge“-Team im Wald.

„Der Baum wird durch Regen glitschig und ist auch im Winter ganz anders als im Sommer. Das schafft jedes Mal neue Anreize für Bewegung“, führt Bachmann aus. „Diese beiden Aspekte – Vielfalt und Veränderung – trainieren die Bewegungsfähigkeit auf weit umfassendere Weise, als das drinnen möglich ist.“ Im Wald mit seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten gibt es keine fertigen Spiel- oder Sportgeräte, deren Benutzung von vornherein festgelegt ist, sondern reichlich Platz für Fantasie und individuelles Lernen.

Das eigene Tempo finden
Jedes Kind kann seinem Bewegungsbedürfnis im eigenen Tempo folgen, wie auch die Pädagogin betont: „Wir lassen den Kindern den nötigen Raum für ihre persönlichen Erfahrungen. Wir sind natürlich da und schauen, dass sie sicher sind und sich geborgen fühlen. Wir helfen, wenn sie es brauchen, aber wir versuchen, uns ganz bewusst zurückzuhalten.“ Halt und Orientierung gibt auch die Tagesstruktur: das gemeinsame Ankommen und der Morgenkreis, bestimmte Plätze, von denen aus die Kinder ihre Erkundungen starten sowie der Abschlusskreis am Mittag.

Je nach Temperament verhalten sich die Kleinen sehr unterschiedlich: Da gibt es die Draufgänger, denen kein Baum zu hoch und kein Ast zu wacklig ist, ebenso wie die Schüchternen, die ganz vorsichtig Schritt für Schritt ihren Radius erweitern. Niemand wird unter Druck gesetzt, niemand künstlich angetrieben. „Wir haben großen Respekt vor dem inneren Plan der Kinder“, erläutert Stollberg ihre Haltung. „Wenn sie auf einen Baum hochklettern wollen, schauen wir eher zu und lassen sie es alleine schaffen.“

Damit setzt der Erlebnisraum „Wald“ wichtige Gegenimpulse zu einem unkritischen Umgang mit digitalen Medien: Die Kinder machen nicht nur verschiedenste, authentische Erfahrungen, sondern lernen auch, aus sich selbst heraus Bestätigung und Befriedigung zu schöpfen, anstatt auf schnelle Belohnungssysteme technischer Geräte fixiert zu sein. Femke Stollberg schätzt den Wald zudem als Arbeitsplatz, an dem es deutlich ruhiger zugeht als in geschlossenen Kindergarten-Räumen und der auch ihr selbst jede Menge Bewegung bietet: „Ich muss abends nicht ins Fitnessstudio gehen“, sagt sie. „Ich bin nah an der Natur und fühle mich ausgeglichen. Hier zu arbeiten, ist quasi purer Egoismus“, ergänzt sie lachend.

Lernen mit allen Sinnen
Motorische und kognitive Entwicklung gehen beim Toben und Spielen im Wald Hand in Hand: Das Wort „begreifen“ ist in diesem Zusammenhang durchaus wörtlich zu verstehen, denn das Lernen findet mit allen Sinnen statt. „Bewegungskompetenz lässt sich vor allem dadurch fördern, dass man den Kindern Zeit lässt“, erklärt Bachmann. „Aus der Hirnforschung wissen wir, dass es gut ist, möglichst unterschiedliche Eindrücke zu sammeln, die sich dann zu Lernerfahrungen verdichten. Umso besser, wenn das Ganze in entspannter Atmosphäre stattfindet und man die Möglichkeit hat, sich persönlich und emotional mit seiner Umgebung zu verbinden. Vorgegebene Bewegungsabläufe dagegen minimieren solche Effekte. Das Beste, was wir für unsere Kinder tun können, ist deshalb, ihnen ein vielseitiges Umfeld zu bieten und ihren inneren Rhythmen den nötigen Freiraum zu lassen.“ Darüber hinaus sieht er in der Waldpädagogik eine Präventionsstrategie für Gesundheit und Resilienz bis ins hohe Alter – schließlich werden hier wichtige Grundlagen dafür gelegt, dass die Kinder zu selbstbewussten Persönlichkeiten heranwachsen: „Sie entwickeln eine positive Sicht auf sich selbst und die Welt: Weil sie was können, weil sie was tun und Freude daran haben. Und wenn ich in meiner Bewegung souverän bin, kann ich mich später auch als Erwachsener in einer herausfordernden Umgebung sicher zurechtfinden.“