Die von uns geförderten Projekte sind
unsere Fenster in die Welt.

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Lebenslernort Landwirtschaft: Verständnis des Lebendigen entwickeln

  • Kinder und Erwachsene bei der Kartoffelernte
    Fotogalerie: Hof Pente, Foto: T. Hartkemeyer
  • Foto: S. Rainer
  • Foto: T. Hartkemeyer
  • Foto: T. Hartkemeyer
  • Foto: T. Hartkemeyer

Wie kann Lernen so gestaltet werden, dass es am echten Leben und nicht in einer künstlich geschaffenen Lernumgebung stattfindet? Wie kann Landwirtschaft Basis für eine solche Lernumgebung sein und das vielzitierte Dorf bieten, das zur Erziehung eines Kindes benötigt wird? Diese Fragen beschäftigen Dr. Tobias Hartkemeyer schon lange.

Aufgewachsen auf einem Bauernhof bei Osnabrück, mit einem Vater, der neben der Landwirtschaft immer auch im Bildungsbereich aktiv war – beispielsweise als Leiter einer Volkshochschule – entschied er sich sowohl für ein Studium der Landwirtschaft als auch der Pädagogik und verband beide Themen in seiner Promotion. Bei seiner Suche nach einer Möglichkeit, die beiden Interessen zu vereinen, stieß er gemeinsam mit seiner Frau Julia auf das Modell der gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft, auch solidarische Landwirtschaft oder CSA (Community Supported Agriculture) genannt. Ein Modell, das Hartkemeyer zufolge eigentlich gar nicht funktionieren kann: „Nur mit der Hilfe von ganz vielen Menschen kann das glücken, was aber nicht in herkömmlicher weise von vorneherein planbar ist“, so der Landwirt und Pädagoge.

Geglückt ist das Vorhaben in seinem Fall, der Hof Pente ist mit gut 240 Mitgliedern im vierten Wirtschaftsjahr einer der erfolgreichsten CSA-Betriebe in Deutschland und immer wieder Gegenstand von Presseartikeln und Fernsehreportagen. Interessant dabei ist aber nicht nur die solidarische Landwirtschaft, sondern die vielfältigen Impulse, die auf dieser Basis ermöglicht werden. Im Gespräch erläutert Tobias Hartkemeyer, wie sich die vielen Initiativen im Bereich Erziehung und Bildung auf dem Hof Pente entwickelt haben und was es mit dem Projekt „Pädagogische Provinz“ auf sich hat, das auch von der Software AG – Stiftung unterstützt wird.

Herr Hartkemeyer, wie kam es dazu, dass Sie den Hof Pente in die Form der gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft überführt haben? Und wie kam es zu dem zweiten Schwerpunkt Bildung?

Nach meinem Studium der Landwirtschaft und Pädagogik war mir klar, dass ich weder einfach nur Lehrer noch „normaler“ Bauer werden wollte. Dann habe ich von dieser Idee der gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft gehört. Das erschien mir sofort als genial, Landwirtschaft als einen Begegnungsraum zu begreifen und zu entwickeln. Ein Ort, wo nicht nur der Bauer alleine im Schweiße seines Angesichts arbeitet und dann auch noch versucht, seine Produkte irgendwie gewinnbringend in den Markt zu bringen. Sondern eine gemeinschaftsgetragene Landwirtschaft, die ein sozialer Begegnungsraum und ein Lernfeld ist. Dieser Gedanke hat mich begeistert.

Wo kommt zur solidarischen Landwirtschaft als Begegnungsort die Qualität eines Lernfeldes hinzu?

Wir wollten das Hofprojekt von Anfang an weiter fassen und nicht nur eine solidarische Landwirtschaft mit der Einbindung aller Kunden und Stakeholder ermöglichen. Uns ging es darum, wie man das gemeinsame Lernen und Leben neu greifen kann. Das Spannende am Lern- und Lebensort Landwirtschaft ist ja, dass sich vielfältigste Fragen stellen, nicht nur wirtschaftlicher oder produktionstechnischer Art. Das sind ganz konkrete Fragen, und ganz konkrete Menschen überlegen sich, wie sie damit umgehen können. Diesen Ort so zu gestalten, dass diese unterschiedlichen Menschen, von jung bis alt, zusammenkommen können, sich diese Fragen im Kontext stellen und wirklich professionell lernen können, war und ist unser Ziel. Daher war für mich die gemeinschaftlich getragene Landwirtschaft immer mehr als nur ein brüderliches Wirtschaften im landwirtschaftlichen Kontext. Den Hof als Lebenslernort, als Universitas zu entwickeln, das ist für mich Schlüssel und Zukunftsaspekt.

Wo sehen Sie den Hauptunterschied zwischen den gängigen Bildungseinrichtungen und dem Lebenslernort Landwirtschaft?

Man kann häufig feststellen, dass beispielsweise Universitäten mit ihren starren Strukturen und festen Hierarchien nicht ganz dem entsprechen, was man sich aus Sicht der Organisationsentwicklung unter einer „Lernenden Organisation“ vorstellt. Dies sollte gerade bei einem Gemeinschaftshof anders sein, denn sonst funktioniert er einfach nicht. Miteinander Denken und gemeinsam neues Erkunden ist hier sehr wichtig. Es geht auch nicht um abstrakte Theorien, sondern um konkrete, lebenspraktische Dinge. Die Probleme werden an der Praxis und im Zusammenarbeiten gelöst. Das ist insbesondere für das Verstehen des Lebendigen, des Prozesshaften ungemein wichtig – eine Fähigkeit, von der wir uns gesellschaftlich immer weiter entfernt haben und die wir in der Zukunft verstärkt brauchen werden.

Wie kann man sich die pädagogische Arbeit auf dem Hof konkret vorstellen?

Neben der Erwachsenenbildung in Form von Seminaren zum Dialogprozess so wie Seminare für Auszubildende und Studenten (Landwirtschaft, Gartenbau und Erziehungswissenschaft)  haben wir jedes Jahr viele Auszubildende, Praktikanten - Studenten, Schüler und auch Praktikanten mit besonderen Bedürfnissen, die Schwierigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Zusätzlich bringen sich viele Mitglieder ganz praktisch in die Arbeit auf dem Hof ein, das sind oft Menschen in Altersteilzeit oder Rentner. Wenn man noch die Kindertagesstätte mit hinzunimmt, haben wir wirklich alle Generationen auf dem Hof, ein breites Spektrum, was ein sehr produktives und intensives gemeinsames Lernen und Arbeiten ermöglicht. Zudem geben wir auch monatliche „Nachrichten vom Hof“ heraus, in denen wir nicht nur über alltagspraktische Hofentwicklungen informieren, sondern auch über Themen wie Saatgut, Züchtung bis hin zu weltpolitischen Themen wie das geplante Freihandelsabkommen informieren.

Am richtigen Leben lernen“

Ermöglicht diese Vielfalt, dieses breite Spektrum das, was Sie Handlungspädagogik nennen?

Ja, das ist die Grundlage. Mir wurde das Konzept der Handlungspädagogik am Beispiel meiner eigenen Kindern ganz deutlich:  als mein Sohn in den „normalen“ Kindergarten kam, war das zunächst wie ein Schock für ihn. Sein Kommentar „Papa, ich will nicht in den Kindergarten, ich will ein richtiger Mann werden“ weist darauf hin, dass er weiterhin am „echten“ Leben teilnehmen, an der konkreten Arbeit lernen wollte. Und darum geht es uns bei der Handlungspädagogik: vom Zuschauen, Wahrnehmen über das Mithelfen zum eigenen Tun kommen, das sind Lernprozesse an sinnerfüllten und nützlichen Tätigkeiten. Wo können Kinder  denn heute noch Erwachsene erleben, die praktische, nachahmenswerte Tätigkeiten vollbringen? Auf dem Lernort Bauernhof dürfen die Kinder schrittweise teilhaben und erleben, wie erwachsene Menschen aus einer sinnhaft orientierten Motivation heraus gemeinsam Verantwortung für Vielfalt übernehmen. Das ist ein Prozess, den Schule nur schwer nachahmen kann.

Hat sich aus diesem Erleben die Idee der „Pädagogischen Provinz“ entwickelt?

In der Tat, denn wir möchten, dass Kinder über einen längeren Zeitraum an diesem Ort teilhaben dürfen. Deswegen bin ich froh, dass wir durch die Förderung der Software AG – Stiftung den ersten großen Schritt in diese Richtung machen und das Pilotprojekt starten können. Für die dritte Klasse einer benachbarten Waldorfschule soll der Hof für eine gewisse Zeit der Mittelpunkt des gesamten schulischen Geschehens werden. Dafür benötigen sie natürlich auch einen eigenen festen Ort auf dem Hof, an dem der „theoretische“ Unterricht stattfindet  – in unserem Fall ist das eine große Jurte. Von diesem Ort aus nehmen sie in Gruppen schrittweise teil an den verschiedenen Tätigkeiten, gemeinsam mit den Mitarbeitern und Mitgliedern der Hofgemeinschaft. Die Erfahrung in diesem neuen pädagogischen Projekt soll nicht einfach nur gemacht, sondern auch dokumentiert und weitergegeben werden, um Transfer im Best-Practice-Sinne zu ermöglichen. Das Modell stößt auf großes Interesse, sowohl von Seiten der pädagogischen Praxis als auch der Erziehungswissenschaft.

Man könnte an dieser Stelle provokativ fragen, ob die Kinder in einer harmonischen, idealisierten Umgebung überhaupt auf das „echte Leben“, auf Wettbewerb und die Herausforderungen des Berufslebens vorbereitet werden?

Zunächst einmal kann man fragen, ob wir Opfer von Entwicklungen sind oder unsere Realität gestalten. Wenn ich davon ausgehe, dass wir unsere Welt gestalten können, dann halte ich es für essentiell wichtig, dass wir an unsere Kinder nicht nur Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen oder den Umgang mit Computern weitergeben. Wir müssen ihnen zusätzlich das mitgeben, was dahinter steht, was uns motiviert, treibt und sinnstiftend anregt. Und das lernt man vor allem in einer lebendigen Umgebung, die einen sozialen Begegnungsraum auch mit Pflanzen, Tieren und Boden ermöglicht. Denn zu uns kommen Menschen, die in ihrer Freizeit arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden, Menschen, die gestalten und etwas verändern wollen. Diese Begeisterung können die Kinder im Mit-Tun erleben – eine Erfahrung, die ungeheuer wichtig ist für ihre Entwicklung. Das unterstützt sie dabei, einmal wirklich handlungsfähig zu werden. Für die immer größer werdenden Herausforderungen, die auf uns zukommen, sind solche Fähigkeiten unabdingbar. Von daher würde ich sagen, dass der Lebenslernort Bauernhof im besten Sinne auf das Leben vorbereitet.

Informationen zum Projekt
Das Pilotprojekt „pädagogische Provinz“ wird in Zusammenarbeit mit der Waldorfschule Evinghausen durchgeführt. Ab September 2014 findet für die dritte Klasse für die Dauer von zwei Monaten der gesamte Unterricht einschließlich der sogenannten Bau- und Landbauepoche auf dem Hof Pente statt. Das Projekt nutzt dabei das handlungspädagogische Umfeld des CSA-Hofes. Das Projekt soll jährlich mit der dritten Klasse durchgeführt werden und für ähnliche Projekte mit anderen Klassen und Schulen weitergeführt werden.

Zur Durchführung des Projekts wird auf dem Hof eine Jurte aufgebaut, da zunächst Erfahrungen mit dem Konzept gemacht werden sollen, bevor in feste Bauten investiert wird. Die Jurte ist wie eine mongolische Jurte gebaut, hat aber isolierten Boden, Wände, Decke und ist aus LKW Plane mit Holzfaser gebaut, sodass sie auch bei hiesigen feuchten Witterungsbedingungen im Winter draußen bleiben kann. Geheizt wird mit einem Holzofen.

Der Projektverlauf wird mit einem Film sowie einer externen Evaluation (Institut Dialog Transnational) dokumentiert und ausgewertet. Die Ergebnisse werden in mindestens vier Veranstaltungen in Niedersachsen und in einem Abschlussworkshop (Berlin) dargestellt. Im Oktober 2015 erscheint eine Buchveröffentlichung dazu.