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Wissenschaftliche Untersuchung: Waldorfpädagogik und Zentralabitur

Schüler nehmen eine Wasserprobe an einem Teich
Biologieunterricht an einer Waldorfschule, Foto: C. Fischer

Eine der markanten Besonderheiten der Waldorfpädagogik ist der in Epochen, also in drei- bis vierwöchigen Zeitblöcken durchgeführte phänomenologische Unterricht in den Naturwissenschaften. Dieser nimmt seinen Ausgangspunkt explizit an den eigenen Beobachtungen und Erfahrungen der Schüler. Dazu werden sorgfältig ausgewählte exemplarische und besonders aufschlussreiche Phänomene wie z.B. aussagekräftige Experimente in den Mittelpunkt gestellt. Den Lernenden wird so die Möglichkeit geboten, aus dem Wahrgenommenen selbst weiterführende Schlüsse zu ziehen. Der Fokus liegt damit erst sekundär auf der Aneignung des curricular vorgegebenen Faktenwissens. Diese methodisch-didaktische Herangehensweise wird auch kritisch gesehen, Eltern haben bisweilen die Befürchtung, dass ein solcher Zugang nicht genügend „hartes“ Faktenwissen vermittle.

Die gelebte Praxis und insbesondere die Ergebnisse von Waldorf-Absolventenstudien haben diese kritische Sicht nicht bestätigt. Vielmehr mehren sich die Zeichen, dass an Waldorfschulen auf diese Weise besonders motiviert und vor allem „anders“ gelernt wird. So hat 2006 eine PISA-Erhebung in Österreich für einigen Wirbel gesorgt. Sie untersuchte die naturwissenschaftlichen Kompetenzen der Schüler. Die Ergebnisse zeigten, dass die Waldorfschüler nicht nur gut abgeschnitten haben, sondern insbesondere hinsichtlich ihres Interesses und ihrer Freude an den naturwissenschaftlichen Fächern weit über dem Landes- und sogar auch deutlich über dem OECD-Durchschnitt lagen.

Eine ähnliche Beobachtung hat Dr. Dirk Rohde gemacht, der an der Marburger Freien Waldorfschule Biologie unterrichtet. Als 2007 das Zentralabitur in Hessen eingeführt wurde, waren die Kollegien unsicher, wie die Waldorfschüler im direkten Vergleich abschneiden würden. Die Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Die Waldorfschüler lagen nicht nur gleichauf, sondern erzielten teils sogar bessere Abschlussnoten als die Absolventen der staatlichen Schulen. Dieser Trend wiederholte sich auch in den darauffolgenden Jahren und in Dirk Rohde erwachte das wissenschaftliche Interesse –  welche Ergebnisse werden genau erreicht? Und warum können Waldorfschüler besser sein? Sind doch die Wege zum Abitur sehr verschieden. Der forschende Lehrer, der nebenbei als Lehrbeauftragter am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Marburg tätig ist, widmet sich dieser Frage seit 2011 im Rahmen eines Habilitationsvorhabens. Dabei konzentriert er sich auf das Fach Biologie.

Zunächst einmal ging es darum, größere Mengen an Daten zu erheben und zu verarbeiten, um die Ergebnisse valide belegen zu können. Diese Vorarbeit wurde von Kolleginnen und Kollegen der Freien Waldorfschulen im Bundesland Hessen und denen einiger staatlicher Schulen mit gymnasialer Oberstufe unterstützt, sodass eine konkrete und solide Datenbasis zustande kam. Diese ergab, dass die Waldorfschüler in der zentralen Landesabitur-Prüfung im Leistungskurs Biologie tendenziell besser abschneiden als die Schüler an den Gymnasien. Mit den reinen Noten werden Aspekte wie beispielsweise der soziokulturelle Hintergrund der Schüler aber nicht berücksichtigt. So gibt es z.B. gymnasiale Oberstufen, an denen viel mehr Schüler mit nicht-deutscher Herkunftskultur lernen. Um diesen Effekt zumindest zu verringern, wurden benachbarte staatliche Schulen ausgewählt, die in ähnlichen Wohnvierteln liegen wie die Waldorfschulen. Gleichzeitig ist die quantitative Gewichtung ein Problem, da es viel mehr Schüler an staatlichen als an Waldorfschulen gibt. Statistisch abgesichert liegt als ein erstes Ergebnis nun vor, dass hessische Waldorfschüler nicht nur keine Probleme mit dem Zentralabitur haben, sondern im Leistungsfach Biologie zumindest ebenso gut abschneiden wie Schüler an staatlichen Schulen. Die Ergebnisse selbst sind sogar besser, die Differenz kann aber zum Teil dadurch erklärt werden, dass an den Waldorfschulen die Schüler, die den Leistungskurs Biologie als Prüfungsfach wählen, im Leistungs-Durchschnitt ihres Jahrgangs liegen, während an den staatlichen Schulen, von denen Daten vorliegen, eher leistungsschwächere Schüler diese Wahl treffen.

„Diese Ergebnisse sind bemerkenswert, denn wo an den Gymnasien der Lehrplan Stein auf Stein, logisch aufeinander aufbauend bis zum Ziel Abitur führen soll, haben wir an unseren hessischen Waldorfschulen eine komplett andere Situation: Klassenlehrer oft bis zur achten Klasse, die u.a. in Biologie keine gymnasialen Fachlehrer sind; eine deutlich andere Unterrichtsweise; in der Regel bis zur zehnten Klasse einschließlich rein epochaler Biologie-Unterricht; von der fünften bis zur zehnten Klasse in Summe etwas weniger Biologiestunden; inhaltlich teils deutlich andere Schwerpunkte; und das alles ohne Noten- und Versetzungsdruck – kurz gesagt, ein komplett anderes pädagogisches Konzept, bei dem das Abitur nicht das, sondern nur ein Ziel ist“, fasst Rohde zusammen. Aus staatlicher Sicht dürfte es daher diese Ergebnisse so eigentlich nicht geben.

Hypothesen, warum dieser andere Weg zu solch bemerkenswerten Ergebnissen führt, gibt es viele. Um hier auf der Basis der abgesicherten statistischen Daten einen Schritt weiter zu kommen, wählte Dirk Rohde den Weg der qualitativen Interviews. Der Ansatz einer gewissen Vergleich- und Kontrastierbarkeit wurde aus dem quantitativen Teil beibehalten: Zu zwei hessischen Waldorfschulen wurde jeweils eine „Partnerschule“ ausgewählt – je ein Gymnasium in der Nachbarschaft. Dirk Rohde hat im Januar 2014 begonnen, die 25 Schülerinnen und Schüler zu interviewen, die freiwillig an der Studie teilnehmen. Insgesamt wurden sie bisher zweimal interviewt, einmal direkt vor dem schriftlichen Abitur und einmal nach Abschluss aller Prüfungen. Einige von ihnen sollen ein drittes Mal etwa anderthalb Jahre nach der Abiturprüfung interviewt werden, wenn sie mit ihrer Berufsausbildung begonnen haben.

„Methodisch hat sich Dr. Rohde für ein sehr aufwändiges qualitatives Untersuchungsdesign entschieden, bei dem die subjektiven Lern- und Bildungsbiographien der Schüler, ihre dahinterstehenden Ziele, Motivationen und Bedeutungszuschreibungen mittels offener Interviews und der dokumentarischen Methode der Interpretation erhoben werden“, erklärt Professor Dirk Randoll. Dadurch könne die Komplexität des Wirkungsgefüges wesentlich besser abgebildet und nachvollzogen werden als beispielsweise durch eine Fragebogenerhebung, ist sich der Professor für Erziehungswissenschaft und Leiter des Institutes  für Erziehungswissenschaft und empirische Bildungs- und Sozialforschung an der Alanus Hochschule sicher.

„Es ist zu erwarten, dass die Ergebnisse des Forschungsprojektes für die fachwissenschaftliche Diskussion nicht nur innerhalb der Waldorfschulbewegung, sondern vor allem auch im Regelschulbereich aufschlussreich sein werden“, betont Randoll, der das Projekt von Seiten der Software AG – Stiftung begleitet. Denn die spezifischen Erkenntnisse und Erfahrungen im Biologieunterricht an Waldorfschulen, insbesondere der phänomenologische Unterrichtsansatz, werden damit für eine breitere Öffentlichkeit versteh- und nachvollziehbar gemacht. Damit erfahre der wünschenswerte Dialog zwischen Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft eine weitere Förderung.