Auch nach der EU-Saatgutverordnung: Saatgut bleibt das derzeit am meisten gefährdete Kulturgut

Getreidefeld
Foto: C. Fischer

Zwei Wochen vor Abfahrt des Sonderzuges anlässlich des Jubiläums „90 Jahre Biologisch-Dynamische Landwirtschaft“ melden sich die „Reisebegleiter“ und Mitgestalter von Reise und Fachtagung mit einem eindringlichen Appell zu Wort: nicht Patentierung, Standardisierung und Kommerzialisierung sind demnach die Lösung für die drängenden Probleme der Welternährung, sondern Vielfalt und eine gemeinsame Entwicklung von Mensch und Pflanze.

„Saatgut ist zur Ware geworden“, hebt Dr. Bertold Heyden hervor, Gründer des Keyserlink-Institutes für Saatgutforschung und Getreidezüchtung im biologisch-dynamischen Anbau. Die Kommerzialisierung hat laut Heyden zur Folge, dass das Ziel bei der Entwicklung neuer Sorten in erster Linie der Gewinn für den Saatgutkonzern ist - und nicht unbedingt die gesunde Ernährung des Menschen. Saatgut müsse wieder Kulturgut werden. „Denn nur eine gemeinsame Entwicklung von Mensch und Pflanze führt in eine heilsame Zukunft. Es müssen sich Menschengemeinschaften bilden, die dafür Verantwortung übernehmen.“

Vielfalt muss Norm werden: Jeder soll essen, pflanzen, tauschen können
Iga Niznik vom Österreichischen Verein für den Erhalt und die Entwicklung der Kulturpflanzenvielfalt „Arche Noah“ stellt die Frage, wer welches Saatgut anderen Menschen feilbieten darf: „Diese Frage ist aktuell Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen: die „EU-Saatgutverordnung“ wurde zwar vorerst gestoppt, doch geht es nach der Saatgutindustrie, soll die private Bereitstellung von Saatgut strafbar werden“, so Niznik. Die EU-Kommission hingegen verteidige ihren Verordnungsentwurf: Standardisierte Pflanzen, wie sie von der industrialisierten Landwirtschaft gefordert werden, werden darin zum Gesetz erhoben. „Die Arche Noah setzt sich für die Freiheit und für die Vielfalt ein. Die Menschen sollen essen, tauschen, pflanzen und kaufen können, was ihnen gefällt. Die Vielfalt muss eine anerkannte Norm werden, statt auf winzige Nischen und Ausnahmen reduziert zu werden. Hier geht es nicht um eine „Wohltätigkeitsveranstaltung für ein paar arme Pflanzerl“: Pflanzen, die heute „ohne Bedeutung“ sind, werden künftig immer wichtiger: Nur sie haben das Potenzial, sich an den Klimawandel anzupassen“, unterstreicht Iga Niznik.

Christine Nagel, Gemüsezüchterin von Kultursaat e.V., betont, dass die Entwicklung der Kulturpflanzen („…versuchen Sie mal, aus einem Meerkohl einen Kohlrabi zu züchten!“) und die daraus entstandenen Sorten auf unzählige Generationen zuvor zurückgehen. „Saatgut wurde weitergereicht – Profit- und Machtgier haben diesen Strom nahezu zum Austrocknen gebracht: Sorten und Wildformen werden von Konzernen eingesammelt und für die Herstellung von Hybriden verwendet, die in ihren Sorteneigenschaften nicht stabil und mit Labortechnik manipuliert zunehmend auch nicht mehr fruchtbar sind.“ Nahrungsqualität im umfassenden Sinne sowie die Achtung vor dem Leben spielen dabei keine Rolle. Mit jeder einzelnen Sorte, die nicht mehr in gärtnerisch-bäuerlicher Weise erhalten und weiterentwickelt werden könne, schwinde die Ernährungssouveränität überall auf dem Globus. „Die Züchter des gemeinnützigen Vereins Kultursaat züchten zukunftsfähige Sorten: samenfest und auf biologisch-dynamischer Grundlage“, hebt Christina Nagel hervor. In Österreich ist die Firma Reinsaat Mitglied und Partner von Kultursaat e.V.

Christoph Then, Geschäftsführer von Testbiotech, warnt vor der Patentierung von Saatgut: „Es ist wichtig, dass Demeter im Kampf gegen Patente auf Saatgut aktiv bleibt. Die belebte Natur, Pflanzen und Tiere, sind keine Erfindung der Industrie und dürfen nicht durch Patente monopolisiert werden - niemand weiß das besser als die Landwirte, die ökologischen Landbau betreiben“, so Then.

„Neben den Themen Biodiversität, Patentierung von Saatgut und Konzentration der Marktmacht auf wenige Weltkonzerne ist der Blick zukünftig auch differenziert auf die Finanzierung der ökologischen und biodynamischen Saatgutzüchtung zu lenken“, betont Sebastian Bauer von der Software AG – Stiftung. „Bisher wurden die Züchtungsaktivitäten rein aus gemeinnützigen Geldern, Zuwendungen von Stiftungen und vielen Einzelspenden geleistet; möchte man jedoch in naher Zukunft die bisherige Nische verlassen, müssen wir auch über weiterführende Finanzierungsmodelle sprechen“, so Bauer weiter. Das bewusste „in Vorleistung treten“, die Finanzierung mittels eines Investments in die Zukunft mit Geldern aus den der Landwirtschaft nahestehenden wirtschaftlichen Unternehmen müsse zukünftig besprechbar sein. Nur so können Bauer zufolge diese Formen der Züchtung aus dem Schatten der „Bedürftigkeit“ und dem „nice to have-Ansatz“ heraustreten und eine echte und flächendeckene Alternative werden.

An diesen derzeit akuten Fragen zum Thema Saatgut und Landwirtschaft arbeiten auf der Reise des Sonderzuges sowie während der Fachtagung in Kroatien rund 150 Vordenker, Wissenschaftler, Künstler und Praktiker aus vielen Bereichen mit dem Ziel, Antworten für zeitgenössisches Handeln zu finden.

Informationen zum Kulturgutexpress:
Das Jubiläum „90 Jahre biologisch-dynamische Landwirtschaft (Demeter)“ wird in besonderer Weise gefeiert: mit einem „Kulturgutexpress“. Dieser Sonderzug startet am Freitag, den 6.6.2014 in Salzburg und fährt über Graz und Maribor bis nach Donji Kraljevec. Dort findet mit den Passagieren und den Gästen vor Ort eine gemeinsam gestaltete Tagung zu Pfingsten unter dem Motto 'IM ZENTRUM LANDWIRTSCHAFT' statt. Am Montag, den 9.6.2014 geht es wieder zurück bis nach Salzburg. Der Sonderzug verbindet Kulturen, passiert drei Länder, entschleunigt mit der Dampflok einen Teil der Wegstrecke und lässt in rund neun Stunden Fahrtzeit Land(wirt)schaft erfahren. Mit an Bord sind Kunst und Kultur, Natur und Wissenschaft, neue Technologien, Visionen und Aktionen. Kulturgüter wie: Saatgut, Wasser und Honig werden mitgeführt, diskutiert, vorgestellt und verköstigt.

Als mitwirkender Künstler konnten u.a. der bekannte Violinist Miha Pogačnik mit dem Slowenischen Sinfonieorchester gewonnen werden, als „Reisebegleiter“ u.a. SOS Save our Seeds, die Software AG – Stiftung und die Zukunftsstiftung Landwirtschaft der GLS Treuhand sowie aus Österreich Milo Tesselaar und Reinsaat. Organisiert wird die Reise von Vera Koppehel und Peter Daniell Porsche.

Mehr Informationen finden Sie unter www.kulturgutexpress.com                         

Tiefergehende Informationen zum Thema liefert ein Interview mit Sebastian Bauer und Klaus Plischke, die als Projektleiter der Software AG – Stiftung Projekte in den Bereichen ökologische Landwirtschaft und Saatgut begleiten.

Eine weitere Pressemitteilung zum Kulturgutexpress finden Sie hier.

Ansprechpartner für die Medien zum „Kulturgutexpress“:
In Deutschland: Peter Augustin, Software AG – Stiftung Tel. +49 6151 916 65 146, Email p.augustin(at)sagst.de
In Österreich: Barbara Chaloupek, Tel. +43 2773 43 875, Email bach.pr(at)gmx.at