Vom Problem zum Genuss: Schulküchen als Ort des Handwerks

Porträtfoto von Dietmar Hagen
Foto: „Essenszeit“

Rund 400 Essen für Schule, Kindergarten und Hort verlassen täglich die Kantine der Waldorfschule Hannover-Maschsee. Gekocht wird komplett ohne Fertigprodukte, der Bioanteil beträgt im Durchschnitt rund 50 Prozent. Bereits 2012 wurde das Konzept gemäß dem Modell der „Mehr-Wert-Ernährung“ von Dietmar Hagen umgestellt. Sein Unternehmen „Essenszeit“ berät Organisationen und kooperiert mit zahlreichen Großküchen, die eine vielseitige, ausgewogene und vor Ort frisch zubereitete Gemeinschaftsverpflegung etablieren wollen. Im Gespräch mit der implizit-Redaktion erläutert der ehemalige Gourmet-Koch seinen Ansatz, die Schulküche vom Problem- zum Genussthema zu machen.

Herr Hagen, welche speziellen Herausforderungen müssen Schulküchen meistern?
Dietmar Hagen: Schulen haben bei der organisatorischen Gestaltung ihrer Pausen und Stundenpläne nur wenig Spielraum. Dadurch ergeben sich extreme Stoßzeiten, die mit einem hohen Lärmpegel einhergehen. Eine Frage ist deshalb, wie die Pause trotzdem zur Erholung von Kindern wie Lehrkräften beitragen kann. Schulküchen sind also nicht nur gefordert, hochwertiges Essen anzubieten, sondern auch eine soziale Plattform zu schaffen. In diesem Sinne verstehen manche Einrichtungen die Schulküche als Ort des Handwerks, wo selbst gekocht wird und auch die Schülerinnen und Schüler pädagogisch eingebunden sind.

Worin liegt Ihrer Einschätzung nach der besondere Wert einer Schulküche, die selbst vor Ort betrieben wird, anstatt das Essen anliefern zu lassen?
Dietmar Hagen: Am Maschsee arbeiten wir mit Kindern aus der fünften und sechsten Klasse zusammen. Jeweils zwei bis drei von ihnen erhalten eine kurze Hygieneschulung und helfen dann ein paar Tage bei der Küchenarbeit und Essensausgabe. Jede und jeder, der hier einmal mitgewirkt hat, ist später auch ein anderer Gast. Das Kochen vor Ort hat also einen identitätsstiftenden Charakter: Alle erleben die Werkstatt mit den darin handelnden Personen, sie sehen die Verarbeitung und treten in Kontakt. Darüber hinaus geht es auch um Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit: Mit der Gestaltung eines eigenen Speiseplans kann ich den Geschmackssinn erweitern und entscheiden, was und wie ich kochen will. Es ist daher sehr schade, dass viele Waldorfschulen diesen Impuls, der bei ihnen ja eigentlich tief verankert ist, vernachlässigen – weil es einfacher erscheint, externe Lösungen mit halb oder fertig zubereitetem Essen zu finden.

Wie würden Sie diesen ursprünglichen Impuls beschreiben?
Dietmar Hagen: Rudolf Steiner wollte die Schule als lebendigen Raum gestalten. Die Küche spielt dafür in meinen Augen eine zentrale Rolle. Sie kann als beseelter Ort starke Verbindungen schaffen, denn hier laufen viele Fäden zusammen, nicht nur beim täglichen Mittagessen, sondern auch bei Veranstaltungen oder in der Zusammenarbeit mit dem Schulgarten. Natürlich ist sie auch ein Genussort! Diesen als solchen zu zelebrieren und Schulverpflegung nicht als lästige Pflicht zu betrachten, macht für mich den Unterschied.

Was braucht es dafür?
Dietmar Hagen: Es geht in meinen Augen vor allem um die innere Haltung sowie ein Verständnis für den tieferen Sinn des Essens und der Lebensmittelverarbeitung. Das wird umso wichtiger, weil bei den Heranwachsenden heute eine große Sensibilität für das Thema Ernährung besteht. Ihr aktiv als Schule zu begegnen und auch entsprechend zu informieren, ist eine wesentliche Aufgabe in den nächsten Jahren. Gleichzeitig ist es nötig, die gesamte Produktions- und Lieferkette in den Blick zu nehmen. Im Prinzip müsste es darum gehen, die Beziehung vom Saatgut über die Landwirtschaft, den Betrieb über die Logistik, die Verarbeitung bis zum fertigen Essen transparent zu machen. Das können wir als Küche gut leisten – ohne dass es zu kopflastig wird und das sinnliche Erlebnis zu kurz kommt.

Zur Person:
Seine berufliche Karriere führte den Österreicher Dietmar Hagen durch die Küchen einiger Sterne- und Gourmetrestaurants von Wien über Gstaad bis nach New York. Nach Stationen der Sinnsuche, während denen er für junge Straffällige, Menschen mit Assistenzbedarf oder strahlenkranke Kinder in Tschernobyl kochte, wurde Hagen als „Küchen-Revoluzzer“ bekannt, der etwa bei Bahlsen oder Rossmann den Wandel zur gesunden, genussreichen Kantinen-Kost auslöste. Auf Grundlage dieser Erfahrungen entwickelte er für die Gemeinschaftsverpflegung das Konzept der Mehr-Wert-Ernährung, das u. a. auch in dem 2021 erschienenen Buch von Jasmin Peschke „Vom Acker auf den Teller“ dargestellt ist. Hagens Motivation: Das tägliche Essen zu einem sinnlichen Erlebnis zu machen und die Gesunderhaltung von Mensch und Umwelt zu fördern.