Denken in Bildern
Mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung und kein gutes Gefühl für Zahlen – diesen Phänomenen kann ein angeborenes Lernverhalten zugrunde liegen, bei dem Informationen im Gehirn „einseitig“ verarbeitet werden. „Bilddenker“ werden diese Menschen genannt. Dirk Randoll und Jürgen Peters haben Eigenschaften von Bilddenkern untersucht und daraus abgeleitet, wie sie am besten lernen.
Von Tatjana Fuchs, Alanus Hochschule
Auf dem österreichischen Gaisberg, unweit von Salzburg, liegt auf 700 Höhenmetern das Obersteinwandgut. Auf diesem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Bergbauernhof war sechs Jahre lang eine Schule untergebracht. Zwischen Ställen, Getreidespeichern und Obstwiesen besuchten 21 Schüler zwischen neun und 15 Jahren die „Freie Hofschule Gaisberg“. Das Besondere: Alle Schüler sind Bilddenker. „Bilddenker zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine überdurchschnittliche Intelligenz aufweisen, sehr kreativ und sensibel sind, jedoch die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen nur bedingt oder unter großen Mühen erlernen“, erklärt Dirk Randoll, Professor für Erziehungswissenschaft an der Alanus Hochschule. Gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Jürgen Peters führte er auf Grundlage von Interviews mit Lehrern, Schülern und Eltern der Hofschule die weltweit erste empirische Untersuchung des Phänomens „Bilddenker“ durch.
Wie lernen Bilddenker?
Kurz nach dem fünfjährigen Jubiläum der Hofschule wurde Randoll von deren Schulleiter Michael Harslem mit der Evaluation betraut. „Wir haben analysiert, welche Lernverhalten für Bilddenker typisch sind“, erklärt der Professor. Auf dieser Grundlage entwickelte das Forscherteam Kriterien, die zeigen, mit welchen Methoden und unter welchen Umständen Bilddenker am besten lernen. Die besonderen Eigenschaften der Bilddenker kommen dadurch zustande, dass sie „rechtshemisphärisch denken“, wie Randoll sagt. Das bedeutet, dass etwa Prozesse des abstrakten Denkens und der Erkennung von Details, die bei der Mehrheit der Menschen vor allem in der linken Gehirnhälfte ablaufen, bei Bilddenkern primär in der rechten stattfinden. Diese Seite unseres Gehirns ist allerdings eher darauf ausgelegt, Prozesse der Kreativität und Problemlösung zu verarbeiten und dabei die Dinge in ihre vielfältigen Zusammenhänge zu stellen – das Gegenteil eines detaillierten, fokussierten Denkens also. „Das führt dazu, dass bilddenkende Menschen ihre Umwelt imaginieren“, erklärt Randoll – also primär in Bildern denken. Anschaulich werden die Folgen der Schwierigkeiten beim Fokussieren und Abstrahieren zum Beispiel beim Thema Lesen: „Bilddenker lesen nicht, sie Betrachten vielmehr die Wörter, umkreisen sie mit dem Blick“, beschreibt Randoll. Allein für das Wort „der“ ergeben sich dadurch viele Möglichkeiten des Lesens: erd, der, bre, erb, reb. Ein Wort wird mehr als Bild denn als Reihung von Zeichen erfasst. Auf einer anderen Stufe wird der Sinn eines Textes erkannt, das Vorlesen bereitet jedoch Probleme: „Das Kind erblickt das Wort „Ferkel“ und liest „Schweinchen“ vor“, führt Peters als Beispiel an.
Sensibel, sozial und leicht abzulenken
Bilddenker können eher auf Beschreibungen als auf abstrakte Begriffe zurück greifen. „Dieser Mangel an Exaktheit und begrifflicher Klarheit stellt Bilddenker im klassischen Schulsystem natürlich vor große Probleme“, erklärt Peters, der die Interviews an der Hofschule führte. Dafür können Bilddenker in Sekundenschnelle Situationen in ihrer Gesamtheit erfassen, auch den Gemütszustand ihres Gegenübers. „Abnehmen“ nennen die Experten dieses „Scannen“ von Situation. Das „Abnehmen“ geht mit großer Sensibilität und Empathie einher. „Bilddenker erkennen die Verfassung ihres Gegenübers sehr gut“, so Peters. Dadurch können sie sehr sozial sein. „Da Bilddenker sehr sensibel sind, ist ein authentisches Verhalten ihnen gegenüber besonders wichtig“, sind sich Randoll und Peters einig. Durch die Fülle an Eindrücken, denen sie aufgrund ihrer Sensibilität ausgesetzt sind, lassen sich Bilddenker leicht ablenken. „Das erschwert das konzentrierte Lernen“, erklärt der Erziehungswissenschaftler. „Diese Anlage wird durch die Schule meist nicht gefördert, sondern unterdrückt. Dies führt bei einem Großteil der Kinder zu einer Anpassung an das stärker analytisch orientierte Lernen“, sagt Randoll. Bilddenkern – etwa vier Prozent der Bevölkerung können dazu gerechnet werden – gelingt diese Anpassung jedoch nicht gut oder gar nicht. So auch bei den Schülern der Hofschule Gaisberg, was dazu führte, dass auf Initiative einiger Eltern die Schulgründung zustande kam. Begleitet von Pädagogen wurde ein Konzept für die Schule entwickelt, das auf waldorfpädagogischen Inhalten und auf dem Prinzip des „Erlebnislernen“ beruht: Ausgehend von Arbeiten im Alltag des Bauernhofes oder eigenen Interessen bestimmen die Schüler die Lerninhalte mit. So eröffnet die Reparatur am Motor eines Traktors den Zugang zur mathematischen Berechnung von Volumen oder der Umgang mit der Mistgabel leitet die Hebelwirkung im Physikunterricht ein. Darüber hinaus widmeten sich die Schüler in Lernprojekten individuell gewählten Themen.
Phänomenales Gedächtnis
Die Lehrer verstehen sich dabei als „Lernbegleiter“, der den Schülern Zugang zu verschiedenen Themen eröffnet. Das Lernen finde im Rahmen einer „dialogischen Kultur“ statt, erklärt Randoll. Viele Gelegenheiten zum Einzelgespräch, ein demokratisch angelegtes Forum für Wünsche und Vorschläge und vor allem die Begegnung auf Augenhöhe zwischen Schülern und Lernbegleitern haben eine Atmosphäre geschaffen, in der die Vermittlung von Wissen stattfinden konnte. „Wir konnten zeigen, dass Stress unbedingt vermieden werden sollte“, schildert der Professor eines der Forschungsergebnisse. In diesem Zustand wurden die ausgezeichneten sozialen und kreativen Fähigkeiten der Bilddenker gebremst und sie verloren ihr „phänomenales Gedächtnis“. „Druck und Zwang können zu erheblichen Widerständen und auch aggressivem Verhalten führen“, beschreibt Peters. Als einen Stressfaktor identifizierten die Forscher „jeglichen Übergang von visuellen Faktoren in die Verschriftlichung.“ Schriftliche Tests sind demnach per se eine große Herausforderung für bilddenkende Menschen – unabhängig vom Inhalt. „Präsentationen sind die wesentlich geeignetere Prüfungsform“, so Peters. Solange in der Situation kein Stress empfunden wird, gehen die Schüler laut Peters kreativ mit ihren Aufgaben um. „Das äußert sich zum Beispiel darin, dass sie eigene Lösungsstrategien finden“, erklärt er. Darüber hinaus betonen die Forscher die große Relevanz des Eigeninteresses der Schüler: „Nachhaltiges Lernen funktioniert bei Bilddenkern nur, wenn sie sich für eine Sache interessieren und sie in einen Sinnzusammenhang stellen“, erklärt Randoll. Dann merkten sich die Schüler die detailliertesten Fakten. Eine wesentliche Aufgabe der Lernbegleiter ist es daher, das Interesse der Schüler zu wecken und sie dabei zu unterstützen, sich zu fokussieren.
Auf Potenziale zurückgreifen
Die Hofschule Gaisberg musste ihren Betrieb vor rund einem Jahr aus wirtschaftlichen Gründen einstellen. Die Software AG – Stiftung und private Spender finanzierten je zur Hälfte die abschließende Evaluation durch Randoll und Peters, die ein halbes Jahr nach Beendigung des Schulbetriebes stattfand. „Alle Kinder konnten im Anschluss an anderen Institutionen ihre Ausbildung fortsetzen“, erzählt Peters. Die Hofschule habe die Freude am Lernen wieder geweckt und die Angst vor der Schule genommen. „Die Schüler können wieder auf ihre Potenziale zurückgreifen“, resümiert der Wissenschaftler. Das Forscherteam möchte jetzt das Phänomen der Bilddenker weiter untersuchen. „Unsere nächsten Schritte sollen dazu beitragen, Methoden zur Diagnose des Bilddenkens zu finden“, so Randoll. Erste Gespräche zu einem Kooperationsprojekt mit der Universität Hamburg waren bereits erfolgreich. Derzeit bereiten Randoll und Peters ein Symposium zum Thema Bilddenker vor, das 2016 an der Alanus Hochschule geplant ist.
Weitere Informationen:
Die Evaluation der Hofschule Gaisberg wurde beauftragt von der Akademie für Entwicklungsbegleitung und durchgeführt vom Fachbereich Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule. Der ausführliche Bericht kann unter akademie(at)entwicklungsbegleitung.net angefordert werden. Weitere Informationen über das Projekt sind auf der Website www.hofschule-gaisberg.at zu finden