Am Samenkorn lernen: Medizinisch-landwirtschaftliches Studienjahr

Hand zeigt auf Wurzeln in der Erde
Foto: C. Fischer

Gesundheit und Landwirtschaft in einen fruchtbaren Austausch zu bringen – diesen Ansatz verfolgt das Medizinisch-Landwirtschaftliche Studienjahr (MeLaS) auf dem Dottenfelderhof im hessischen Bad Vilbel. Die Ärztin Julia Kubasch und der Landwirt Martin von Mackensen berichten im Interview von ihren Erfahrungen.

Frau Kubasch, was hat Sie als Ärztin daran gereizt, im vergangenen Jahr am ersten Medizinisch-Landwirtschaftlichen Studienjahr teilzunehmen und nun auch im zweiten Durchgang mitzuwirken?
Julia Kubasch: Ich hatte mich bereits verstärkt mit Klimafragen, Boden sowie Landwirtschaft beschäftigt und auch die Tiny Farms Academy in Berlin begonnen. Nach meinem Medizinstudium in Berlin war ich über zehn Jahre im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in der Psychosomatik und Schmerzmedizin tätig. Mich interessiert besonders, wie Verhalten entsteht und verändert werden kann – und welche Rahmenbedingungen Transformation im Einzelnen sowie in der Gesellschaft fördern. Mit diesem psychologischen Wissen und meinen Erfahrungen im Bereich des Klimawandels möchte ich zum meiner Meinung nach dringend notwendigen gesellschaftlichen Wandel beitragen.

Herr von Mackensen, Sie haben das Studienjahr gemeinsam mit Dr. David Martin von der Universität Witten/Herdecke konzipiert. Welche Verbindungen sehen Sie zwischen Landwirtschaft und Medizin bzw. dem Gesundheitswesen? 
Martin von Mackensen: Die Quellen von Gesundheit und Fruchtbarkeit liegen viel näher beieinander, als wir vielleicht meinen. Die lebensfördernden Kräfte, die sich in der Entfaltung und Gestaltung einer Pflanze offenbaren, sind den Selbstheilungskräften des Menschen sehr ähnlich. Die Anthroposophie eröffnet hier interessante Perspektiven, wie wir zum Beispiel das Wesen des Rhythmus in der menschlichen ebenso wie in der außermenschlichen Natur ergründen können. Daraus ergeben sich auch hilfreiche Ansätze für den therapeutischen Bereich, zumal der biodynamische Landbau stets den Menschen ins Zentrum stellt.

Welche Erfahrungen machen die medizinisch vorgebildeten Teilnehmenden während des Studienjahres und wie können daraus neue Perspektiven im Berufsalltag als Ärztin oder Arzt entstehen?
Julia Kubasch: Niemand von uns hat zuvor in einem landwirtschaftlichen Organismus gelebt und so hautnah den Gang der Jahreszeiten und die damit einhergehenden Arbeiten in der Landwirtschaft erfahren. Wir konnten am Samenkorn lernen, wie sich Leben entwickelt – was diese Lebenskräfte eigentlich sind, wie Chaos und Kosmos sich befruchten. Gerade dieses kreativ-spontane Handeln bei wenig Planungsmöglichkeit lässt sich mit den LandwirtInnen erleben. Das ist für die eher „verkopften“ MedizinerInnen ein wichtiges Korrektiv und Additiv. Auch können wir den Wert vollwertiger und lebendiger Nahrung ganz anders verstehen und im Studium des „Landwirtschaftlichen Kurses“ medizinische Fragen etwa zur Verdauung neu beantwortet finden.

Martin von Mackensen: Die Handlungsorientierung, d. h. das Zupacken-Wollen und -Können der GärtnerInnen und LandwirtInnen, wirkt auf die Menschen aus dem medizinischen Bereich ansteckend. Andererseits regt der schnelle Verstand der Ärztinnen und Ärzte, die begreifen wollen, wie alles funktioniert oder ob Dinge auch ganz anders gestaltet werden könnten, die Teilnehmenden aus der Landwirtschaft dazu an, eigene Erklärungs- und Handlungsmuster zu hinterfragen.

Sind auch schon konkrete Ansätze entstanden, wie das therapeutische Potenzial der Landwirtschaft besser genutzt werden kann?
Julia Kubasch: Ja, als Ergebnis des ersten MeLaS-Jahrgangs haben wir dazu zwei Projekte entwickelt. Zum einen gibt es Kontakt mit einer psychiatrischen Tagesklinik, um PatientInnen auf dem Dottenfelderhof eine begleitete Mitarbeit in Kleingruppen zu ermöglichen. Die vielfältigen und sinnvollen Arbeiten in der Landwirtschaft können Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen helfen, Selbstwirksamkeit zu erfahren, soziale Beziehungen aufzubauen und zu entschleunigen. Das zweite Projekt ist eine Kooperation mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe: Wir wurden gebeten, ein Konzept für einen brachliegenden Bauernhof nahe der Klinik in Berlin zu erarbeiten. Daraus ist eine Initiativgruppe entstanden, die sich lokal vernetzt und gemeinsam das Konzept einer therapeutischen Landwirtschaft auf einem biodynamisch wirtschaftenden Hof inklusive Weiterverarbeitung entworfen hat sowie den politischen EntscheiderInnen vorstellen konnte.

Martin von Mackensen wurde durch die Begegnung mit dem Künstler Joseph Beuys dazu angeregt, nach seiner Lehre zum Maschinenschlosser eine landwirtschaftliche Ausbildung zu beginnen. Er lebt und arbeitet seit über 30 Jahren in der Demeter-Betriebsgemeinschaft Dottenfelderhof in Bad Vilbel bei Frankfurt am Main. Seit 2009 leitet er die Landbauschule Dottenfelderhof, eine staatlich anerkannte Fachschule für biodynamischen Landbau.

Julia Kubasch, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, arbeitet als ärztliche Gutachterin sowie als Dozentin an der Landbauschule Dottenfelderhof. Zuvor war sie zehn Jahre am Berliner Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe tätig. Vor ihrem Medizinstudium in Berlin studierte sie zwei Semester Agrarökologie in Rostock und absolvierte ein sechsmonatiges landwirtschaftliches Pflichtpraktikum in Bereich Permakultur in Australien.